Mir ist kein zweiter Maler gegenwärtig, in dessen Gemälden sich die Farben so voll, klar und leuchtend entfalten wie in den Bildern von Mehmet Güler. Vor allem da, wo das Gelb und das Rot in breiten Bahnen auf- und nebeneinander fließen, drängt sich unmittelbar der Vergleich mit dem Feuer oder dem glühenden Lavastrom auf. Diese Assoziation ist nicht verkehrt, denn gelb leuchten die Sonne und das von ihr zur Reife gebrachte Kornfeld, und rot sind die Brandspuren, die sie in der größten Hitze auf den ungeschützten Äckern und Körpern hinterlässt. Obwohl sich die Farben überlagern und anscheinend mischen, bleiben sie rein in ihren Kontrasten und steigern sich gegenseitig in ihrer Wirkung.
Doch was wären Gülers Bilder ohne die Spuren, Streifen und Flächen des tiefen und hellen Blaus? Unvergesslich ist für mich die erste Begegnung mit dem Bild „Traum und Wirklichkeit“ (1979), in dem sich eine tiefblaue Masse, halb Wolke, halb See, auf der Frauengestalten stehen und ruhen, in einem bizarren, surrealen grünen Baum über einem gelben Feld festsetzt, wobei ganz vorne ein kleiner blauer Teich wie das Initialbild der Traumvision erscheint. Eine solche explosive Kraft der aufeinander treffenden Farbräume hatte ich zuvor noch nicht gespürt. Damals ahnte ich nicht, dass Güler im Laufe der Jahre diese Intensität weiter steigern würde. Vor allem die jüngsten Bilder – aus diesem Jahr und der unmittelbaren Zeit davor – scheinen noch einmal die Energien zu potenzieren. Mit entschiedener Kraft fließen die Farben zusammen und stellen doch kein Chaos her, sondern eine von äußerster Vitalität erfüllte Harmonie, in der sich die Gegensätze von Feuer und Wasser nicht aufheben, sondern, sich gegenseitig stärkend, zur Geltung bringen. Wo Güler noch vor 15, 20 Jahren zwischen den Farbflächen vermittelte und für sanfte Übergänge sorgte, entwickelt er heute aus der kompromisslosen Übermalung ein kompositorisches Gleichgewicht.
Eine Schlüsselstellung hat dabei zuletzt das Weiß erobert. Wie ein Blitz oder sprudelnder Wasserfall bricht es in die in die blauen, roten, gelben und orangefarbenen Zonen ein, überlagert oder spaltet sie und lässt die Farben insgesamt noch stärker strahlen. Das Weiß drängt sich vor – als der Ursprung der Farben.Während Mehmet Güler zwischendurch immer wieder auch Gemälde geschaffen hat, in denen sich die Farben stellenweise verflüchtigen, gibt es in den Kompositionen der jüngsten Zeit keine Stellen, an denen die Intensität auch nur im geringsten Maße nachlassen würde. Die Farbdynamik überzieht die Leinwände total.
Wenn man die hier vorgestellten Bilder Gülers unter Farbaspekten betrachtet, kann man leicht übersehen, dass er bei aller reinen Malerei einen anekdotischen Anlass sucht und seinem Grundthema, die Frauengestalten unter der gleißenden Sonne, treu geblieben ist. Nachdem sich eine Zeitlang die gegenständlichen Formen nahezu aufgelöst hatten, die Bilder fast abstrakt geworden waren und nur umrisshaft Farbformationen oder zeichnerische Eingriffe für figürliche Anklänge gesorgt hatten, verdichtete sich zuletzt wieder die Malerei. Plastisch treten zuweilen Farbkörper hervor, und auch die menschliche Gestalt wird wieder häufiger farblich fassbar. Aber Güler kehrt damit nicht zu alten Gestaltungsweisen zurück. Vielmehr ist er dazu übergegangen, die Formen noch direkter aus der Farbe zu entwickeln. Von der Sonne verbrannt, sind die weißen Frauenkörper rot geworden. Sie stehen und liegen nicht länger statuarisch da, sondern werden von den Farbstrudeln mitgerisssen. Plötzlich gewinnen die in Bewegung versetzten Gestalten neues Leben und emotionale Ausdruckskraft. Durch die Kraft der Farben dringt die Sprache des Körpers.
Kassel, Juli 2000