Vom Widerschein der Farbe

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

als ich vor drei Jahren Gabriele Grosse in ihrem Düsseldorfer Atelier besuchte, um mich auf eine Ausstellungseröffnung vorzubereiten, zeigte sie mir einige jüngst entstandene Blätter, bei denen sie noch nicht sicher war, ob sie diese mit zu der geplanten Ausstellung geben sollte. Mittlerweile ist daraus eine Serie geworden, die hier auch vorgestellt wird: Es handelt sich um Graphitzeichnungen mit Aquarell.

Warum ich gerade mit dem Hinweis auf diese Arbeiten beginne? Die Antwort ist einfach: Weil diese Zeichnungen einerseits ganz unverkennbar zum Werk und Stil Gabriele Grosses gehören und weil sie andererseits eine neue, unbekannte Seite zum Vorschein bringen. Das möchte ich begründen. Allerdings muss ich dazu weiter ausholen.

Zuerst das Vertraute, das durch alle Entwicklungen und Wandlungen hinweg seit langem das Werk prägt: Gabriele Grosse geht vom Gegenständlichen aus und bleibt ihm verhaftet. Dabei hat sie sich von Anfang an nicht um die großen Formen und Entwürfe gekümmert, nicht um Landschaften und Fernsichten, sondern um den Mikrokosmos – die feinen Fühler und Beine der Insekten, die durchsichtigen Flügel, die Rinnsale und Gezeitenspuren im Watt oder die so schwer fassbaren Verdichtungen der Quallen und Polypen.

„Im Gezeitenraum“ ist die Ausstellung betitelt. Und wenn Sie sich an die Einladung erinnern, dann werden Sie unter anderem ein Foto vor Augen haben, das zeigt, wie zwei Hände über dem Meereswasser etwas halten, das eine Riesenqualle sein kann oder ein bizarrer Eisklumpen – durchsichtig und amorph. Nimmt man es genau, dann kommt es gar nicht darauf an, herauszufinden, welcher Art nun dieser gläserner Körper zuzurechnen sei. Denn: Auch wenn die Titel oft Hinweise geben, in welche Richtungen man assoziieren könne, ob man eher an Insekten zu denken habe oder an Nordseelandschaften, so ist festzustellen, dass Gabriele Grosse in ihren Arbeiten solche Nahsichten und Durchblicke wählt, dass bei der Freilegung der Formen und inneren Strukturen die Unterschiede zwischen organischen Körpern und topographischen Flächen unbedeutend werden. Es gibt Bilder, in denen ein Gezeitenraum ebenso gut ein aus der Ferne entstandenes Luftbild wie die Nahaufnahme einer Wattzone sein kann, und andere, in denen Landschaften durchleuchteten Körpern ähneln.

Eine andere Konstante im Schaffen von Gabriele Grosse ist die Kompositionsweise: Die Bilder, ob Zeichnungen, Aquarelle, Radierungen oder Tapisserien, leben von der spannungsgeladenen Wechselbeziehung zwischen Linie und Fläche. Die Linien greifen weit aus, schließen gepunktete und schraffierte Segmente ein und grenzen dunkle oder farbintensive Flächen ein. Doppelt entstehen Spannungen – zwischen den feinen Adern und den flächigen Verdichtungen des Motivs einerseits sowie zwischen dem klar umrissenen Liniensystem und dem gestalteten Bilduntergrund andererseits.

Gabriele Grosse legt, so eine weitere Feststellung, grundsätzlich ihre Kompositionen offen an. Das heißt: Ganz gleich, ob die gezeichneten und gemalten Komponenten auf die Fläche gesetzt sind oder ob sie aus ihr heraus wachsen, verlieren sich die Motive zu den Rändern hin. Die Kompositionen beziehen eine wichtige Portion ihrer Kraft daraus, dass sie nicht bis an die Bildgrenzen ausformuliert sind, dass sie sich zur Bildmitte hin konzentrieren, dass sie den Umraum undefiniert lassen, also torsohaft, ausschnitthaft bleiben. Dadurch entsteht ein hoher Abstraktionsgrad, der dem Blick erlaubt, sich Gegenständlichen zu lösen, der das Auge frei macht, sich auf die Zeichnung und Malerei zu konzentrieren.

Die Bilder entfalten eine eigenartige Wechselbeziehung zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, zwischen Organischem und Mathematisch-Analytischem: Gabriele Grosse löst zwar die Form, mit der sie sich auseinander setzt, aus ihrem natürlichen Zusammenhang heraus, isoliert sie, um allein den Verästelungen und Verkrümmungen der vorgefundenen Strukturen zu folgen, doch häufig umfängt sie diese anatomischen und topographischen Verläufe mit Kreissegmenten und Systemen parallel verlaufender Linien. Es ist, als würden die Käfer, Fliegen und Quallen sowie die Berg- und Meereslandschaften mikroskopisch untersucht und berechnet. Die feinen Zahlen, die an den Linienenden stehen, verstärken den Eindruck, dass da etwas berechnet und klassifiziert würde. Streng senkrecht oder diagonal angelegte Geraden laufen quer gegen die organischen Formen. Zwei Weltsysteme scheinen aufeinander zu stoßen – das unberechenbar Wuchernde und das streng Geplante.

Nach meiner Einschätzung täuscht dieser Eindruck: So gegensätzlich dem ersten Anschein nach die Linien- und Flächensysteme wirken, stammen sie doch aus einem Ansatz: Gabriele Grosse ist eine diszipliniert arbeitende Künstlerin, die das Organische dem selben klaren Gestaltungsprinzip unterwirft wie das Mathematische. Die Parallel-Systeme und Flächenstrukturen setzt sie gezielt ein, um ihre anatomischen und topographische Motive einzubetten, um ihnen Halt und einen Zugang zum Raum zu geben. Dabei vollenden diese Elemente die Abstraktion. Sie machen bewusst, wie weit entfernt die anscheinend so natürlichen Motive von ihrem Ursprung sind.

Andererseits ist die Entfernung bei manchen Motiven gar nicht so groß: In den Bildern nämlich, in denen sie sich mit den Gezeitenräumen beschäftigt, nähert sie sich mit ihren analytischen Linien- und Zahlensystemen unwillkürlich der Sprache, die die Seekarten kennzeichnen. Da stellen sich reale Bezüge her, obwohl der Ursprung ein ganz anderer ist.

Wenn man einen Künstler, eine Künstlerin würdigen will, dann spricht man davon, er oder sie habe eine eigene Handschrift gefunden – Stilmittel also gewählt, die seine oder ihre Arbeiten unverkennbar machen. Ich glaube, in diesem Fall reicht eine solche Behauptung nicht aus: Gabriele Grosse hat eine eigene Ästhetik entwickelt, die sie mit großer Konsequenz seit Jahren und Jahrzehnten umsetzt: Dazu gehören die feinen und feinsten Linien in ihren kontrollierten Wucherungen ebenso wie die Koordinaten und tabellarischen Zahlenreihen, dazu gehören die zart abgestuften tonigen Flächen und die bisweilen überraschenden Verdichtungen. Jenseits der Darstellung, auf die stets die mal poetischen, mal naturwissenschaftlichen und dann manchmal ironischen Titel verweisen, entdeckt man freie, spannungsgeladene Kompositionen.

Zu dieser Ästhetik ist auch der Umgang mit der Farbe zu rechnen. Von heute aus gesehen relativ rasch verabschiedete Gabriele Grosse die farbkräftigen Motive, jene Bilder also, in denen die leuchtend bunten Töne die Flächen überdeckten. Vor allem das dazu geeignete Aquarell hat die Zeichnerin und Malerin dazu gebracht, die Farbe immer zurückhaltender, sanfter und konzentrierter einzusetzen. Sie hat darin eine Meisterschaft entwickelt, mit deren Hilfe die Farbe sich zu Schleiern verflüchtigt oder sich nur als ein Hauch niederschlägt.

Damit komme ich endlich zum Anfang zurück: Vor allem in den seit 1993 entstandenen Graphit-Zeichnungen mit Aquarell bringt Gabriele Grosse diese Kunst zur Vollendung. Diese Blätter, die den vielfältigen Polypen (Hydromedusen) gewidmet sind, wirken zuweilen, als wäre auf ihnen lediglich der Widerschein einer Farbe zu sehen. Nur da, wo der Körper des Meerestieres angedeutet ist, verdichtet sich die Farbe zur festen Form. Auf der übrigen Fläche sind bloß Schleier und Spuren zu entdecken. Die Flüchtigkeit der Farbe spiegelt das Unfassbare und die Bewegung. So wie das Wasser nur über Farben verfügt, die es der Licht-Brechung, der Spiegelung und dem Untergrund verdankt, so scheinen auch dieses nur geliehene Farben zu sein.

Studie 2 Studie 3 Studie 4

Das Eigenwillige der Graphit-Zeichnungen jedoch sind die zarten grauen Linien, die ungezügelt und chaotisch die Bildfläche erobern und die die vertrauten Ordnungen aufsprengen. Diese fahrigen Linien bringen in die aus höchster Konzentration entstandenen Kompositionen eine ungewohnte Spontanietät und Zufälligkeit hinein. Dabei bleiben diese Linien sehr eng mit dem Motiv verbunden. Sie ähneln wild wuchernden Wurzeln oder Fangarmen. Gabriele Grosse hat in diesen Blättern einen für ihre Arbeit neuen Ton angeschlagen. Sie hat eine Kraft freigesetzt, die zuvor diszipliniert worden war.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf einen zweiten Aspekt eingehen: Gabriele Grosse ist, seitdem sie ihr Studium als Meisterschülerin beendet hat, als Zeichnerin und Malerin tätig. Federzeichnungen und Aquarelle machen einen großen Teil ihres Werkes aus. Dazu kommen aquarellierte Radierungen. Nur gemalt im traditionellen Sinne hat sie nicht. Trotzdem gibt es von ihr eine Vielzahl von Gemälden – in Form von Tapisserien, die auch hier das Zentrum der Ausstellung bilden.

Die Arbeit am Webstuhl ist für die Künstlerin Malerei mit anderen Mitteln. Darin unterscheidet sich Gabriele Grosse gewiss von vielen, die Bildteppiche oder Tapisserien herstellen. Das, was sie macht, hat unmittelbar mit dem zu tun, was sie beim Zeichnen oder Aquarellieren im Sinn hat. Die Motive und die Kompositionsweisen ähneln sich. Allerdings unterscheiden sich die Arbeitsmittel und Strategien gründlich. Ich denke, es lohnt sich, einen Moment darüber nachzudenken.

Der nahe liegendste Unterschied liegt in den Arbeitsmitteln: An die Stelle der nassen und immer wieder unterschiedlich konsistenten Farben treten die Fäden aus Wolle, Baumwolle und Leinen, die am Hautelissewebstuhl zusammengeführt werden. Zwar ist die Weberin ebenso wie die Malerin frei darin, spontan zu gestalten, doch muss sie sich im Gegensatz zur Malerin lange vor Arbeitsbeginn für ihr Farbspektrum entscheiden. Entsprechend müssen die Fäden eingefärbt und bestellt werden. Andererseits hat diese Technik den Vorzug, dass ihre Abläufe bis in die feinste Abstufung plan- und kontrollierbar sind. Die Mischung der Farbfäden erlaubt, den exakt gleichen Farbton, der einmal gewählt wurde, an einer anderen, weit entfernten Stelle wieder aufzunehmen. Auf diese Weise ist es möglich, dass die zarten Tönungen und subtilen Linien wie bei den Aquarellen die Tapisserien prägen und dass die Aquarellmalerin von der Weberin profitiert hat. Andererseits wird der beständige Umgang mit 1:1-Vorzeichnungen für die Tapisserien, in die zwischen die Umrisslinien die Codezahlen für die Farbwerte eingetragen sind, jene Ästhetik bestärkt haben, die rationale Ordnungssysteme den natürlichen Formen hinzugesellt.

Den entscheidenden Unterschied sehe ich aber im Verhältnis von Hand, Fläche und Raum. Während die Malerin die Farbe auf eine vorgegebene Grundlage flächig aufträgt, arbeitet die Weberin entlang der gespannten Kette im offenen Raum. Malgrund und Komposition entstehen gleichzeitig; und die Fäden, die eine weite leere, höchstens leicht getönte Fläche ergeben, besitzen die gleiche Präsenz und Ausdruckskraft wie jene, aus denen das zentrale Motiv gestaltet wird. Die kompositionen gehen unmittelbar aus dem Bildträger hervor, auch dann, wenn sie wie aufgetragen scheinen. Während der Pinsel der Malerin ganze Zonen unbearbeitet stehen lassen kann – und diese dann trotzdem die Bildwirkung mitbestimmen – verlangen bei der Tapisserie alle Bildabschnitte die gleiche Materialpräsenz.

Ein drittes Element kommt hinzu: Indem die Weberin jeden Quadratzentimeter des Bildes in ihren Händen entstehen lässt, schafft sie Strukturen, die die gesamte Komposition bestimmen. Gerade auch jene Flächen, die leer wirken, machen die Webstruktur bewusst. Dieses räumliche Arbeiten führt auch logischerweise dazu, dass Gabriele Grosse ihr Gestalten im Raum bewusst macht und zur Akzentuierung von Linien und Formteilen gelegentlich das dichte Gewebe aufbricht und Schlitze stehen lässt. Die Tapisserien öffnen sich zum Raum hin und beziehen Licht und Dunkelheit mit ein.

Sie sehen hier nur wenige Ausschnitte aus einem umfangreichen Werk, das sich mit äußerster Konserquenz entwickelt hat. Die mit der Feder notierte feingliedrige Zeichnung fand Bestätigung im Verküpfen der Fäden, und die kontrollierten zarten Farbabstufungen der Tapisserien blieben nicht ohne Folgen für die Aquarellmalerei. Jetzt sind wir gespannt, zu welchen Weiterungen die spontan wuchernden Linien in den Graphitzeichnungen führen.

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