Die Wirklichkeit als ein starkes Stück Kunst

Eröffnungsausstellung von Rein Wolfs in der Kunsthalle Fridericianum mit einer Einzelschau von Christof Büchel

Fridericianum Das Museum als Baustelle

Landgraf im Silo Tannen für die Parteien Rein Wolfs im Mäc-Geiz

Vielleicht ist das die radikalste Ausstellung überhaupt, die ich gesehen habe. Jedenfalls kann ich mich an keine Ausstellung erinnern, in der das Gebäude (Museum Fridericianum), die darin arbeitende Kunsthalle und die darin gezeigte Kunst so konequent transformiert wurden. Im Grunde ist keine Kunst zu sehen, sondern lediglich inszenierte Wirklichkeit. Der eine Teil dieser Wirklichkeit ist schlicht aus der Außenwelt transformiert worden: Die Billig-Kette Mäc-Geiz hat für die Dauer der Ausstellung im Foyer des Fridericianums eine Filiale eröffnet, in der ganz normale Produkte, nách Preisen sortiert, angeboten werden. Der einizige Unterschied zu den übrigen Läden: Man erhält dort auch das Künstlerbuch von Christoph Büchel und die Eintrittskarten zur Ausstellung. Spätestens die Aufforderung, vor dem Erwerb eines Billigprodukts für 55 Cent eine Eintrittskarte für fünf Euro zu kaufen, wird auch den Nicht-Kunstverständigen darauf stoßen, dass diese Wirklichkeit eine gebrochene und sich selbst spiegelnde ist.

Ebenfalls der Realität entnommen, auch wenn es diese Einrichtung so nicht gibt, ist die Parteien-Messe politica, für die als Logo das umgedrehte blaue documenta-d (p) von 1955 steht. Der Schweizer Künstler Büchel und die Kunsthalle haben gemeinsam die beim Bundeswahlleiter eingetragenen Parteien eingeladen, sich am Eröffnungswochenende an Info-Ständen selbst darzustellen. Von den 115 dort registrierten Parteien hatten ursprünglich 38 zugesagt. Doch in den Wochen vor der Eröffnung sagten die großen (etablierten) Parteien abund meldeten Protest an (so die Linke), weil sie sich nicht gemeinsam mit der rechtsradikalen Gruppierungen wie NPD und Republikanern präsentieren wollten. Büchel und Kunsthallenleiter Rein Wolfs beharrten aber auf ihrer Vorgehensweise mit dem Hinweis, dass auch diese rechtsradikalen Parteien zugelassen seien und durch die öffentliche Parteienfinanzierung unterstützt würden.

politica (Parteien-Messe)

Dieser Vorgang sowie die komplette Ausstellung zeigen, dass der Schweizer Künstler und sein niederländischer Kurator in der Auseinandersetzung mit ihrem Gastland genau die Widersprüche, Eigenheiten und Schwachpunkte der deutschen Wirklichkeit erkannt haben. Überall sind die Dinge auf den Kopf gestellt: Man will zwar nicht mit den Rechtsradikalen gemeinsam auftreten, aber da man selbst davon profitiert, lässt man die Extremisten auch an der öffentlichen Finanzierung teilhaben. Oder: Man kämpft für Kultur und soziale Löhne, hat aber keine Scheu, in den Billigketten einzukaufen, ohne danach zu fragen, wie diese Tiefstpreise durchgedrückt werden.

„Deutsche Grammatik“ heißt die Ausstellung. Der Titel bezieht sich auf die Brüder Wilhelm und Jacob Grimm, die vor knapp 200 Jahren im Fridericianum als Bibliothekare gearbeitet haben, das 1779 als das erste für die Öffentlichkeit gebaute Museum auf dem europäischen Kontinent eröffnet worden war. Ähnlich wie Veit Loers vor 20 Jahren beginnt Rein Wolfs seine Kunsthallenleitung in Kassel mit einem Kraftakt und einem Statement, in dem er nach der Geschichte, Rolle und möglichen Zukunft des klassizistischen Gebäudes fragt.

Und so ergeben sich auf vielen Ebenen Bezüge. Denn nicht nur der Name der Grimms verbindet sich mit dem Gebäude, sondern auch die Person Hitlers. Schließlich stand Adolf Hitler unter dem Portikus des Fridericianums, wie Rein Wolfs auf einem Foto entdeckte, als er die Parade zum 1. Reichskriegertag abnahm. Aber Büchel verfolgt auch ganz andere Linien: Historische Bauten werden nicht nur saniert, sondern auch beliebigen Verwendungen zugeführt. Könnte nicht eines Tages jemand auf die Idee kommen, im Fridericianum eine Shopping-Mall einzurichten? Büchel probt den Ernstfall. Er hat neben Mäc-Geiz auch eine Spielhalle, ein Fitness-Studio und eine Automaten-Spielhalle reingeholt. Alles Dinge, die heute zum Erscheinungsbild deutscher Städte und deutschen Lebens gehören. Symbolisiert wird die Mall-Vision durch einen 12 Meter hohen Weihnachtsbaum, der in der Rotunde bis in den zweiten Stock ragt. Er ist zugleich ein Gegenstück zu den kleinen Tännchen, die neben den Beuys-Bäumen auf dem Friedrichsplatz für die Parteien gepflanzt worden sind.

Es ist unglaublich, wie viele Bezüge sich zwischen den Realitätsebenen ergeben. Immer wieder hält man – meist mit einem Schmunzeln – inne, um sich klar zu werden, wo man sich befindet und was nun wirklich und was inszeniert ist. Die bisher größte Einzelausstellung eines Künstlers im Fridericianum ist bis in Detail sehr exakt angelegt. Am intensivsten spürt man das in der urgemütlichen Kneipe, die zum Wesen deutschen Klein- und Großbürgertums gehört. Doch diese Kneipe mit angeschlossener Großküche, Toiletten und Kegelbahn entpuppt sich nicht bloß als eine Erinnerung an deutsche Gemütlichkeit, sondern ist doppelbödig wie die Geschichte selbst: Eine solche Kneipe mit Kegelbahn existierte im Leipziger Stasi-Gebäude. Und genau in dieser Vergnügungsecke begann man nach dem Untergang der DDR, die weggeworfenen Bilder und geschredderten Stasi-Akten zusammen zu setzen und zu rekonstruienen. Auf diese Weise haben sich Küche, Kneipe und Kegelbahn in Orte kleinster Fummelarbeit und historisch brisanter Geschichtsaufarbeitung verwandelt.

Rekonstruktionsraum /erinnerung an die Stasi-Aufarbeitung) Stasi-Akten in der Kegelbahn Bilder-Recycling

Eine Ausstellung, die über die deutsche Gesellschaft reflektiert, wäre unvollständig, würde sie das Landleben nicht einbeziehen. Das leistet Büchel auf dem Friedrichsplatz. Dabei kam ihm zugute, dass große Teile der Rasenfläche bis vor wenigen Tagen Baustelle waren. So konnte er den halben Platz in eine frisch gepflügte Ackerlandschaft verwandeln. Dass er dieses Stück Landwirtschaft mit einem Großsilo krönte, das er über das Denkmal Friedrich II. stülpte, ist eine gelungene Antwort auf Andreas Siekmanns Karussell, das sich während der documenta 12 um den Landgrafen drehte.

Ein starker, ein gelungener Auftakt von Rein Wolfs. Büchel hat es in der Tat geschafft, diese gewaltigen Flächen in den Griff zu bekommen und ebenso ernst wie spielerisch über das Wesen der Kunst und der deutschen Wirklichkeit zu reflektieren. Er knüpft dabei an Künstler wie Claes Oldenburg, der 1972 einen Verkaufsladen als Maus-Museum vorstellte, ebenso an wie an die Wirklichkeits-Inszenierungen eines Guilaume Bijl. Er bedient sich vieler erprobter Mittel, macht auch Anleihen, steht am Ende aber mit einem sehr persönlichen, großen Wurf da. Es ist eine Schau, die ernsthaft provoziert – mit einem Augenzwinkern.
Siehe auch: Deutscher Herbst

5. 9. – 16. 11. 2008

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