Auf den Spuren von Atlantis

Vorwort

Eine Erinnerung: Beim Bummel über den Göttinger Kunstmarkt stoße ich auf einen Stand mit einem mir vertrauten Bild. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich ein Exemplar dieser Farbradierung erworben, ohne den Künstler zu kennen. Nun entdecke ich den Zeichner und Radierer inmitten seiner Arbeiten: Selbstvergessen sitzt er da im Trubel, einen Zeichenblock auf den Knien; er schaut nicht auf zu den Vorübergehenden, sondern blickt nach innen und zeichnet mit zarter Feder die Bilder nach, die er, weit weg von diesem Marktgeschehen, vor sich sieht. So lernte ich Maarten Thiel kennen, Fünfzehn Jahre ist das her.
Einen langen, zuweilen mühsamen Weg hat Maarten Thiel inzwischen gehen müssen. Doch er ist ihm und sich selbst treu geblieben, auch gerade weil er sich geändert hat. Nur so ist es zu erklären, daß er die Kraft und Ausdauer zu dem vorliegenden Band fand, in dem sich eine ganze künstlerische Existenz offenbart.
Maarten Thiel liefert sich in diesem Buch ungeschützt den Freunden seiner Bilder aus. Das setzt Vertrauen voraus. Er ist Zeichner, Maler und Radierer. Nun wagt er es, über sich selbst, seine Arbeit und seine alltäglichen Probleme zu sprechen – und überzeugt. In manchen Zeilen erfährt man mehr darüber, was es heißt, in unserer Gesellschaft Künstler zu sein, als in breit angelegten Untersuchungen.
Doch der Künstler will die Front nicht wechseln, sondern sieh mit den Mitteln der Diskussion stellen, die seine ureigensten sind. So bilden 40 Zeichnungen, die eigens für dieses Buchprojekt geschaffen wurden, den Kern. Ähnlich wie die Texte sind die Zeichnungen eine Art Selbstprüfung: Aus einem großen Plan heraus und unter nicht geringen Anstrengungen entstanden die 40 Blätter in acht Monaten .Wichtiger als die Größe des Projekts ist jedoch sein künstlerischer Ertrag, denn über diese Serie gewann Maarten Thiel ein neues, intensives und expressives Verhältnis zur Zeichnung. Als hätte der Künstler alle Zurückhaltung hinter sich gelassen, rang er den Blättern Dichte, Tiefe und Kraft ab.
Maarten Thiel zieht in diesem Band nicht einfach Bilanz, sondern stellt sich neu zur Diskussion – kraftvoll, selbstbewußt und vorwärts drängend.

Anmerkungen zu den Mischtechniken von Maarten Thiel

Bekannte Signale für den Aufbruch in unbekannte Gefilde: Zwei weiße Dreiecke, besser: Pyramiden, dahinter und darüber als Horizont und Landschaft eine Seekarte, sprossenweise unter weißen Farbbahnen verschwindend; ganz oben aber eine dicht geschlossene grau- braune Fläche, aus der sich reliefartig ein Flügel heraushebt. „Across the Channel“ heißt das Bild, weil auf den Kartenfragmenten das Gebiet der Kanalinseln auszumachen ist. Mit dem großen leichten Flügel die Kanalinseln überqueren? Hin zu neuen Ufern, hin zu den Pyramiden?
Maarten Thiels Bilder laden ein zu solchen Exkursionen. Stets bieten sie vertraute Vehikel an, Fluggeräte und Boote, Fische und Vögel, und stets begleiten einen hilfreiche Symbole, Gräser und Palmen, Pfeile und Pyramiden, Nester und Zelte, auf daß man nicht merkt, wie man mit Hilfe der Wirklichkeitsbelege hinausgeführt wird in unbekannte Welten, das versunkene Atlantis zu erforschen.
Ein anderes Bild – „Sea Notes“: Es ist ein Bild, das seinerseits zwei andere, aufeinanderbezogene Bilder enthält – unten ein blaues Feld mit gegenläufigen Diagonalstrukturen und darüber eine malerische Darstellung von wohlgeordneten Reisigbündeln. Diese beiden Bilder schwimmen wie Inseln auf einer grauen Fläche, in der Höhen- und Tiefenlinien erkennbar scheinen und aus der Kartenfragmente hervorlugen. Die graue Fläche wird zur Wasserlandschaft, und die Kartenausschnitte täuschen die Möglichkeit zur klaren Standortbestimmung vor.
Einladung zu Abenteuerreisen. Doch Maarten Thiel ist kein Spurensicherer; er baut nicht auf dem Kartenfragment eine logische Geschichte auf, die auf die selbst gestellten Rätsel Antworten gibt. Hier bleiben die Rätsel ungelöst, denn der Zeichner und Maler Thiel nimmt diese ausgesuchten Fundstücke als Leitmotive für die Entwicklung eines Bildes: Die weiß-blauen Farbmischungen, die Tiefen- und Radarleitlinien sowie die mitunter überraschenden Farbaufdrucke (pinkfarbene Balken für gefährliche Einfahrt) der Seekarten legen weitgehend fest, mit welchen Mitteln und in welcher Form Maarten Thiel ein Bild aufbaut.
Thiel ist ein Künstler, der die Bilder, die er zeichnet und malt, ohne gezielte Vorstudien aus sich selbst herausholt. Er fängt an einem Punkt an und gelangt über eine Kette logischer (und doch irrationaler) bildnerischer Verknüpfungen und gedanklicher Verbindungen zu seinen Kompositionen. Ansatzpunkte für Thiels in jüngster Zeit entstandene Mischtechniken sind die Navigationskarten der Seeschiffahrt – mit ihren ganz eigenen Gestaltungsformen: zarte Farben und ein verwirrendes und doch klares System von Linien, Zahlen und Pfeilen. Seit langem schon benutzt Thiel Strömungspfeile, Tiefenmeßzahlen und ähnliche Zeichen als Mittel seines bildnerischen Vokabulars. Erst jetzt aber, mit dem Aufkleben von ganzen Kartenausschnitten, gibt er den Blick auf das Bezugssystem frei.
Doch die Seekarten sind derzeit nicht Thiels einzige Fundgrube: Aufgeklebte Wellpappe (blaues Feld in „Sea Notes“, Pyramiden in „Across the Channel“) liefern eine vorgefertigte, grobe Linienstruktur; und durch das Aufkleben, Verschieben und Zusammendrücken von Seidenpapierschichten entstehen nicht nur gebrochen-transparente Flächen, sondern auch regelrechte Reliefs (der Flügel in „Across the Channel“).
Maarten Thiel hat oft und gern experimentiert, hat immer wieder neue Sprachmittel und Themen, neue Techniken und Ausdrucksmöglichkeiten erprobt. Meist war dabei der Zeichner dem Maler ein paar Schritte voraus. Diese Mischtechniken nun haben den Zeichner zeitweise beiseite treten lassen und den Maler freigemacht. Denn weite Teile der Zeichnung haben die collagierten Teile, die Karten, Pappen und Papierschichten, übernommen. Der Maler gewinnt Raum und Kraft für die Entfaltung der Farbe. Gerade auf den sich ständig verändernden Seidenpapierflächen sind äußerst faszinierende Farbzonen entstanden, in denen man einmal Landschaften zu entdecken meint und in denen man dann wieder die Malweise selbst als Thema entdeckt.
Es ist eine sehr kühle, rationelle Arbeitsweise, die sich ihrer Mittel und Möglichkeiten voll bewußt ist: Formen und Bildelemente, die da sind, müssen nicht unbedingt malerisch erfunden werden. Das schafft auch Wirklichkeitsbezug und ermöglicht Plastizität. Der Spielraum für die Farbe wird umso größer – auch durch die Zurücknahme der Farbigkeit. Zarte, zerbrechliche Kompositionen sind so entstanden, mit signalhaften Motiven. Eindringliche Bilder einer verlorenen Welt.

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