Ausstellung Maarten Thiel im Studio Kausch, Kassel

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Ausstellungen haben meist etwas Rückschauendes an sich: Ein Künstler hat in Jahren oder Jahrzehnten eine Vielzahl von Arbeiten geschaffen, die nun, da sie der Offentlichkeit präsentiert werden, ein Werk ergeben. Entwicklungesprünge lassen sich ablesen, Brüche gar, und wenn der Künstler gut und dazu noch steigerungsfähig war und ist, dann stuft man die jüngsten Arbeiten als logische Endpunkte eines künstlerischen Reifeprozesses ein. Ist man überzeugt und begeistert von dem Ergebnis, dann wünscht man sich und dem Künstler wachsende Erfolge mit diesen Arbeiten, ohne sich Gedanken darüber zu machen, da3 dieser Künstler eines Tages völlig andere Arbeiten vorstellen könnte. Ginge es nach Markt und Publikum, dann müßten die Künstler nur noch einmal entwickelte Markenzeichen vervielfältigen. Anerkennung und Bestätigung für einen Künstler, sein Werk, seinen Stil und sein Medium können, so fördernd und notwendig sie auch sein mögen, genauso gut zu einem entwicklungshemmenden Zustand führen.

Diejenigen von Ihnen, meine Damen und Herren, die Maarten Thiel und seine Arbeiten schon länger kennen, wissen sicher schon, worauf ich mit diesen allgemeinen Bemerkungen hinaus will: Maarten Thiel gibt uns, den Kunst-Betrachtern, -Konsumenten und -Kritikern, gar keine Chance, ihn auf ein Markenzeichen festzunageln, indem er beispielsweise heute die Öffentlichkeit nicht nur mit dem Grafiker und Maler, sondern auch mit dem Objekt-Gestalter Thiel bekannt macht. Kurz, Sie sind Zeugen einer Premiere, deren Ausgang ungewiß ist. Und gerade die Offenheit des Ausgangs, wie erkenntnis- und folgenreich der Sprung des Zeichners und Malers in die dritte Dimension sein mag, spricht dafür, daß wir von dem Künstler Thiel noch eine Menge zu erwarten haben. Mit Rückschau allein ist es nicht getan.

Nun läßt sich rasch einwenden, so groß sei der Sprung gar nicht, im Grunde habe schon vieles im zeichnerischen und malerischen Werk Thiels seit Jahren auf die Wachstumskisten und -Objekte gezielt. In der Tat offenbart sich bei einer intensiveren Betrachtung der Ölbilder, Federzeichnungen und Radierungen – und solch eine Betrachtung ist auch höchst reizvoll ohne den Blick auf die jüngsten Objekte -, daß Maarten Thiel eine Reihe nahezu fester motivischer Bestandteile in immer neuen Formen und Zusammenhängen eingesetzt hat, so daß diese Bestandteile durch alle Veränderungen hindurch wieder erkennbar sind und sich nun zu einem Teil in den Objekten materiell konkretisieren: Das sind einmal die pflanzlichen Elemente wie Moose, Gräser, Büsche und Bäume, dann die geometrisch-architektonischen Elemente wie Podeste, Schachteln und Kisten und schließlich sind es die verschlüsselten Zeichen, Linien und Inschriften.

Maarten Thiel hat ein Stamm-Vokabular an Motiven, auf dem er seine .Bildersprache aufbaut. Zu diesem Stamm-Vokabular gehören auch all die fliegenden Wesen, die mal mehr Vogel, mal mehr Maschine, dann wieder ganz phantastisch oder ganz konkret Flug-Objekt sind. Diese Flugwesen sind so prägend — ich denke da nur an die “Himmelfahrtmaschine“ (1971), die Ballon- und Zeppelin-Bilder (1972/73) und das “Vogeldenkmal“ (1977) als drei wichtige Beispiele —‚ daß ich unwillkürlich bei der Eröffnung der Ausstellung “Drachen und anderes Fliegzeug“ im Kunstverein an Maarten Thiels Arbeiten denken mußte und mir vorstellte, daß ein hinzugefügter Raum mit diesen Arbeiten mehr als eine interessante Fußnote sein würde.

Die erwähnte Farbradierung „Himmelfahrtsmaschine“ hat für mich noch in anderer Hinsicht Signalcharakter, war es doch das erste B1att von Maarten Thiel, das ich kennenlernte. Das B1att gefiel mir auf Anhieb, weil mich das ausgewogene Mit- und Gegeneinander von phantastischem Entwurf und sachlich-irritierenden Zeichen, von zarter, minutiöser Zeichnung und grober Flächigkeit, von konkreter Darstellung und sich verflüchtigender Benennbarkeit faszinierten. Die Charakteristika sind heute noch gültig und auf zahlreiche andere Arbeiten übertragbar.

Ich erwarb damals das Blatt als Jahresgabe des Kunstvereins, ohne mich darum zu kümmern, wer eigentlich Verfertiger dieser Radierung sei. Ein halbes Jahr später stieß ich auf Maarten Thiel auf dem Göttinger Kunstmarkt. Er war unübersehbar, weil er inmitten des jahrmarktähnlichen Trubels in seiner Koje in sich zurückgezogen saß und unbeirrt an einer Federzeichnung arbeitete, für deren Motive es auf dem Kunstmarkt kaum Modelle gab. Die Stille und innere Gelassenheit des Zeichenvorgangs sind an den Bildern ablesbar.

Maarten Thiel hat viele seine Bilder so geschaffen – nämlich ganz von innen heraus, den Gedanken, Träumen und Alpträumen folgend, ohne vorher ein Konzept zu haben. “Ich bin gespannt, wie es weitergeht, wie es sich entwicke1t“, war und ist sein häufiger Kommentar. Natürlich gingen für die Einzelformen stete Studien voraus, und vor allem den Formgesetzen der Natur war der Beinahe-Botaniker Thiel von Jugend an auf der Spur. Entscheidend ist, daß das Wissen um die Formen das freie Gestalten der Gedankenbilder erlaubt und auch noch im phantastischen Entwurf die Realität anwesend ist.

Im Laufe der vergangenen Jahre hat Maarten Thiel keinen geradlinigen Weg zwischen phantastischer und realistischer Kunst beschritten, sondern hat manchen Schlenker mal mehr in die eine, dann wieder in die andere Richtung gemacht und dabei an Erfahrung und Gestaltungsewußtsein gewonnen. Der Raum, der früher eher nur eine perspektivisch gestaltete Fläche war, hat Gestalt angenommen ünd ist zur Landschaft, zum Zimmer oder zu einem Kasten gewachsen. Die Räumlichkeit ist realistischer geworden und das in ihr enthaltene Phantastische gezielter.

Wie jeder ins Phantastische wirkende Künstler behält sich Maarten Thiel in seinen Bildern eine gute Portion Schweigen vor. Nehmen Sie die Zeichnung “Das Kuh-Problem“, die zugleich witzig, schön und gesellschaftskritisch ist: Die Kuh auf einer kleinen Insel Gras – ein friedfertiger Traum oder umwe1tewußter Albtraum? Muß die Betrachtungsweise immer die gleiche sein? Ich finde nicht und bin froh daß ich frei dazu bin, meine Auslegung möglicherweise zu ändern. Trotzdem sollte festgehalten werden, daß sich in den meisten Arbeiten von Maarten Thiel visionäre, handfeste, kritische und ironische Elemente finden und entfalten.
Noch vor vier, fünf Jahren war Maarten Thiel ein Zeichner und Grafiker, der die Farbe in seinen Radierungen eher flächig-dekorativ anwendete. Mittlerweile hat ihn die intensivere .Beschäftigung mit der Malerei dazu gebracht, die Farbe als eigene gestalterische Kraft einzusetzen. Die Zweidimensionalität der Farbradierungen mündet nahezu in eine Dreidimensionalität der Öl-, Tempera- und Mischtechnik-Bilder. Die Kisten und Kästen, ursprünglich geometrische Figuren, werden so gegenständlich und füllen sich derart an, daß der Einblick (wie in dem Bild “The King is dead“) zu einem Ausblick auf ein Bild im Bild wird.
Das Grundthema bleibt trotz des formalen Wandels gleich: Verbindung und Gegenüberstellung verschiedener Realitätsebenen. Die Radierungen und Zeichnungen beschreiben dieses Grundthema., einige der Öl- und Mischtechnik-Bilder vertiefen es, und die Objekte setzen es in konkrete Auseinandersetzung um: Natürliches Gras wächst durch Kunstgras hindurch, Gras wird zum Gegenpol von Kunst, Natur schmückt und verkleidet Kunst und wird doch selbst zu einem
Teil von Kunst.
Maarten Thiel hat nicht nur seine Bilder in die dritte Dimension erweitert (und damit die eingangs geäu3erte Vermutung bestätigt, daß er auch mit diesem Sprung sich treu geblieben ist), sondern auch seinem Werk eine spielerische Variante hinzugefügt: Sollen sich die Mischobjekte voll entfalten, ist der aktive Kunstpfleger gefragt. Aufstellen und gelegentliches Staubwischen wie bei einer Statuette reichen nicht mehr. Da muss die Gießkanne her.
14. 2. 1977

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