Das Bild verliert sich in der Malerei

Zu den neueren Arbeiten von Maarten Thiel

Maarten Thiel zeichnet und malt. Das heißt: Er vereinigt zwei Temperamente in sich, zwei künstlerische Haltungen, die sich ergänzen, aber auch miteinander konkurrieren. Über viele Jahre hinweg schien der Zeichner die Oberhand zu haben. Er gab die Umrißlinien vor und fabulierte. Selbst dann, wenn Maarten Thiel nur mit dem Pinsel arbeitete, herrschte zeichnerische Strenge. Die Konturen waren ebenso klar wie die Schattenlinien, die Farben ordneten sich dem Motiv unter – der Himmel blau, das Gras grün und die Boote rot.

Die Bilder, die entstanden, waren Abbilder. Nicht im Hinblick auf die Bedingungen des Realismus; nein, so greifbar und stofflich einzelne Motive sein mochten, so plastisch die Pyramiden und so zerrupft die Palmen, stets waren es innere Bilder die Maarten Thiel schuf. Eine Form provozierte die andere, die Kompositionen entstanden nach ureigenen, irrationalen Gesetzen. Eben diese tiefere, unbewußte Gesetzmäßigkeit verlieh den Zeichnungen und Gemälden ihre Offenheit. Nur Kunst, die sich nie ganz erschließt, verdient diesen Namen. Und genau jenen notwendigen Rest von Geheimnis birgt Thiels Werk.

Es waren ausgerechnet Zeichnungen, die dem Maler zu einem qualitativen Sprung, zur Emanzipation verhalfen: Für sein Buchprojekt “Randbemerkungen“ (1986) schuf Maarten Thiel vom 23. Juli 1985 bis 14. März 1986 vierzig gleich große Zeichnungen, die als geschlossene Serie geplant und vollendet wurden. Mit einer an die physischen Grenzen stoßenden Kraftanstrengung setzte er sich der selbst gestellten Aufgabe aus und entwickelte dabei ein völlig neues Verhältnis zur Farbe und Komposition. Aufbauend auf den in den Jahren zuvor entstandenen poetischen Mischtechniken ergänzte er in den Zeichnungen den Graphitstift durch den weißen Farbstift und Acrylfarben; außerdem collagierte er einige Blätter.

Natürlich gab in vielen Zeichnungen noch die grafische Struktur den Ton an, dominierten gelegentlich erzählerische Momente. Aber weit stärker prägte sich ein anderer Eindruck ein: In dieser Serie hatte sich der Zeichner auf die Seite des Malers geschlagen, hatte die Konturlinien und Lokalfarben endgültig hinter sich gelassen und sich der Eigengesetzlichkeit des malerischen Gestus ausgeliefert. Obwohl die Graphitlinie sich meist dunkel und massiv
durchsetzte, war sie schon Teil der Malerei, die Flächen rhythmisierend. Das darstellende und erzählende Bild begann, sich in der Zeichnung und Malerei zu verlieren. Ein neues sinnliches Verhältnis zu Linie und Farbe kündigte sich an. Gewiß hatten die Mischtechniken den Boden für diese Entwicklung bereitet, doch die Intensität der Zeichnungs-Serie vollendete den Schritt zu einer selbstbestimmten Malerei.

Die Abstraktion muß nicht neu entdeckt werden. Sie ist Teil der bereits geschriebenen Kunstgeschichte. Jeder Künstler aber, der nicht bloß nachahmt, muß den Abstraktionsprozeß für sich selbst durchstehen. Maarten Thiel hat auf diesem Weg zu ganz vertiefenden und vielschichtigen Kompositionen gefunden. Die Acrylbilder der letzten Jahre haben die Träume und Geschichten der früheren Werke aufgegeben. Sie suchen nicht nach Themen außerhalb der
Fläche, sondern beschäftigen sich ausschließlich mit sich selbst. Die Farben entdecken ihren eigenen Rhythmus. Flächen stoßen aufeinander und überlagern sich. Warme und harmonische Kompositionen wachsen hier in Ruhe zusammen.

Die Hektik und explodierende Kraft der Zeichnungsserie hat Thiel überwunden. Ruhe ist eingekehrt. Sechs, sieben Gemälde stehen gleichzeitig im Atelier, die Vollendung erwartend. Mag sein, daß immer wieder äußere Anlässe die Weiterarbeit verzögern. Doch dieses allmähliche in Schichten Heranwachsen der Bilder gehört zum Programm.

Wenn aus den Tiefen der Kompositionen gelegentlich zeichenhafte Elemente auftauchen – Dreiecke, Pfeile, Zeltbahnen, Segel – dann sind das eher Erinnerungen, verselbständigte und fast schon abstrakte Formen, die Gegenkräfte zu den reinen Farbflächen bilden. Keine andere Aufgabe haben die in die Fläche eingebrachten Graphitlinien, deren Schwärze von den feuchten Farben gelöscht wird und von denen nur noch prägende Rillen und Spuren bleiben. Maarten Thiel malt keine Flächen mehr zu. “Geschlossene Flächen sind tot“, sagt er. Also hat er sich den hellen, leuchtenden Farben zugewandt, hat die Farbräume immer wieder dadurch aufgebrochen, daß er einzelne Schichten wegwischte oder abschliff, und hat die weißen Untergründe in jüngster Zeit nie ganz zugemalt.

Entstanden sind freie, in sich ruhende Kompositionen, die nichts anderes darstellen als die Malerei. Die zeichnerische und bildnerische Vergangenheit Thiels scheint durch (schließlich hat der Zeichner für sich auch neue Wege gefunden), doch dies sind losgelöste Elemente. Maarten Thiel ist damit seinen ganz frühen Gemälden sehr nahegekommen, die auch fast nur vom malerischen Impuls lebten. Aber diese Malerei war eher dunkel und massiv. Die Kratzspuren jener Zeit erreichten nicht die heutige Tiefe.

12/1990

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