Meine sehr verehrten Damen und Herren,
jeder Künstler, der sich heutzutage in seinen Bildern mit den Formen der Wirklichkeit auseinandersetzt, muss sich der Frage stellen, warum er angesichts der unbegrenzten dokumentarischen und manipulativen Möglichkeiten der optischen und elektronischen Medien diesen traditionellen Weg bevorzuge. Für Rolf Escher, dessen jüngsten Werkkomplex Sie heute ausschnitthaft kennenlernen; ist die Antwort schnell gegeben. Keine noch so perfekte neue Technik wäre in der Lage, Bilder hervorzubringen, die von dieser Zartheit, Schlichtheit und Unaufdringlichkeit sind und dabei gleichzeitig derart Vielfältiges in sich vereinen: Sie verschmelzen unauflöslich das Wirkliche und das Mögliche zu einer neuen Wahrheit; sie verwandeln das Vergangene ins Gegenwärtige; die Dinge gewinnen Leben; der Mensch bleibt auch dann noch spürbar, wenn er nicht sichtbar ist; und schließlich sInd sie als Kompositionen vollendet, auch wenn sie sich die Offenheit der flüchtigen Skizze bewahren. Aus dem Anschein der Beiläufigkeit gewinnt Rolf Eschers Kunst ihre Kraft und aus dem Vermögen, im Besonderen das Allgemeine darzustellen.
Natürlich ist auch noch von dem steten Wechsel der eingesetzten zeichnerischen Temperamente zu reden, von der Sanftheit der Bleistiftschraffuren zur Härte der Tuschelinien oder von den Farbstiftakzentuierungen zu den vibrierenden Licht- und Schattenfeldern des Aquarells. Nicht zu vergessen die wechselnden Papiere, mit denen Rolf Escher arbeitet. Mal nutzt er den glatten weißen Karton, dann wählt er einen eingefärbten strukturierten Grund, der dem Stift Widerstand bietet und die Linie bricht.
Das für mich wichtigste und faszinierendste Stilmittel Eschers aber ist, dass seine Zeichnungen (und auch Grafiken) nahtlos von der plastischen Verdinglichung einzelner Details zur skizzenhaften Andeutung überwechseln und dass sie fast nie auf Vollendung bedacht sind. Wenn Sie die Bilder betrachten, können sie leicht feststellen, daß ihr inneres Auge unversehens dort die Arbeit des Zeichners fortführt, wo er sich selbst mit Andeutungen begnügt oder sich gar der Kraft der Leere anvertraut. Eben darin liegt das Geheimnis der Kunst, daß sie nicht geschwätzig wird, sondern den Kern so verdichtet, daß sie zu den Rändern leicht und unverbindlich werden kann, um die Imagination des Betrachters zu aktivieren.
Seit 1976 lehrt Rolf Escher die Kunst des Zeichnens an der Fachhochschule Münster. Er selbst ist seit Ende der 60er Jahre systematisch künstlerisch tätig – als einer der wenigen, die ausschließlich die Grafik und die Zeichnung pflegen. Seit Anbeginn hat er eine Vorliebe für das Alte und Vergessene. Das ist kein vorrangig nostalgisches Interesse, denn es sind nicht die antiquierten Formen selbst, die ihn herausfordern, sondern die Gebrauchs- und Lebensspuren an und in ihnen. Rolf Escher begann mit Stilllebenmotiven, bevor er seinen Blick weitete und Fassaden, Räume und Plätze zu seinen zentralen Motiven machte. Dabei werden auch diese Kompositionen oftmals zu stilllebenhaften Szenarien.
Die Ausstellung, die seit dem Herbst vorigen Jahres durch Deutschland wandert und die Sie hier nun sehen, trägt den Titel Erinnerungsräume. Dieser Titel meint zweierlei – zum einen die Erinnerung an konkrete Orte und Räume und zum anderen die Erinnerungen und Bilder, die der jeweilige Raum im Künstler provoziert. Die Wahrheit, die Rolf Escher in den Straßen und auf den Plätzen, in den Theatern, Bibliotheken und Hausdurchgängen zwischen Güstrow und Istanbul sucht, meint nicht das Abbild. Sie nimmt das Motiv nur zum Vorwand.
Um dies näher zu erläutern, möchte ich einen Aspekt herausgreifen – das Verhältnis von Eschers Bildern zur Zelt und zur Wirklichkeit. Dabei wird sich herausstellen, dass fast jedes Bild dieses Verhältnis anders definiert.
Das Naheliegende im Umgang mit einem alten, überkommenen Gegenstand ist, ihn als historisch zu begreifen und ihn dementsprechend als museales Stück darzustellen. Die alten, wunderlichen Formen werden sichtbar und möglicherweise ihre Abnutzung auch. Es sind Zeugen vergangener Zeit, die mit unserer Gegenwart nur insofern zu tun haben, als sie uns überliefert sind und unser Interesse wecken. In seltenen Fällen wählt Rolf Escher diese rein historische Perspektive – etwa wenn er den säulenartigen Opferstock mit seinen vielen Riegeln und Schlössern darstellt oder Goethes Reisewagen.
Der museale Blick auf Goethes Reisewagen verrät sich auch durch die handschriftliche Notiz, die der Zeichner In die rechte obere Ecke gesetzt hat:
Goethes Kutsche – zweispänniger Reisewagen – 1810 In Karlsbad für 1200 Gulden gekauft. Gleichwohl steckt In dem Bild auch ein anderer Ansatz zum Zeit-
Verständnis: Die Kutsche ist aus ihrer musealen Umgebung des Weimarer Goethehauses herausgelöst. Sie steht vor unseren Augen, wie sie wohl auch Goethe vor sich gesehen haben mag, als er sich zur Reise rüstete. Das heißt: die Vergangenheit wird vergegenwärtigt und es wird vorstellbar, dass bald die Kutsche zur Fahrt hinausrollt. Folglich wundert es nicht, dass in einer anderen Tuschefassung von diesem Motiv Rolf Escher oben in das Blatt eine kleine Szene einfügte, die den Reisewagen in voller Fahrt zeigt – mit einem die Peitsche schwingenden schemenhaften Kutscher auf dem Bock.
In der Zeichnung Kofferberg hingegen zielt Escher in eine völlig andere Richtung. Wohl macht er die altmodischen, abgenutzten Koffer fasslich, doch holt er sie als die abgelegten Gegenstände aus ihrer Zeit heraus und türmt sie zum Zeichen, zum Mahnmal, das, wie auch der Untertitel andeutet, an die
Vergessenen gemahnt, an die Bedrängten und Verfolgten.
Die Mehrzahl der für diese Ausstellung ausgewählten Zeichnungen zeigt Ansichten von historischen Fassaden, Räumen und Plätzen. Jeder, der es liebt, sich auf die Spuren der gebauten Geschichte zu begeben, kennt diese Perspektive: Man sucht und erlebt den Reiz der Zeugen der Vergangenheit. Die aus der Mode gekommenen Formen und die gelegentlichen Spuren des Verfalls steigern möglicherweise die Attraktivität. Indirekt bestätigt finden wir diesen Eindruck, wenn wir vor einem perfekt restaurierten, sozusagen gelackten Gebäude stehen. Gleichwohl neigen wir dazu, wenn wir ein solches Baudenkmal fürs heimische Album zu fotografieren versuchen, das Objekt unserer Augenlust aus den Bezügen der Gegenwart herauszulösen, also Idealtypisch festzuhalten und jenen Blickwinkel zu finden, aus dem die Attribute unserer Zelt (wie die störenden Autos) nicht mit zu sehen sind.
Rolf Escher jedoch aktiviert den Gegenwartsbezug: Der kleine Kiosk aus Lissabon beispielsweise wird von den Oberleitungen regelrecht überdacht. Die
historistische Kuriosität wird in das Netz unserer Zeit eingebunden. Und in dem Blatt Hausdurchfahrt in Halle sind es, wenn man es genau nimmt, die zwei Reihen der Briefkästen, die den Kern des Motivs bilden. Eine vergleichbar fassbare Individualität gewinnen in dem Bild nur das Pflaster und der Kanaldeckel. Je länger man das Bild betrachtet, desto klarer wird, dass es im üblichen Sinne keine architektonische Attraktion vorstellt. Sein Reiz beruht vielmehr darauf, dass es die alten Strukturen städtischen Lebens in atmosphärischer Dichte dokumentiert. Die Schönheit des Gewöhnlichen erhält ihre Würde zurück.
Häufig geht Rolf Escher bei der Entwicklung der Komposition noch einen Schritt weiter: Er holt die historisch überlieferte Architektur als immer noch genutzten Handlungs- und Aktionsraum ins Bild; doch haben die Akteure diesen Raum verlassen oder noch nicht betreten. Unübersehbar wird das in dem Weimar gewidmeten Blatt Bibliothek 2: Der Glanz des zweistöckigen Rokokosaals wird, so scheint es, durch zwei gewöhnliche Leitern verstellt, die hoch zu den Bücherregalen führen. Die Leitern gewinnen eine aufdringliche Präsenz. Unmissverständlich signalisieren sie, dass gleich jemand kommen wird, um hochzusteigen und ein Buch aus den oberen Reihen herauszuholen.
Die meisten von Eschers Zeichnungen und Grafiken fixieren solche Zwischenspielsituationen. Der überlieferte, bis in die Gegenwart funktionale Ort wird zur Bühne, auf der eine Szenerie zwischen einer ungewissen Vergangenheit und ebenso unbekannten Zukunft stilllebenhaft eingefroren wird. Der Zeichner macht die auf seinen Reisen entdeckten Motive für sich nutzbar und trägt in sie seine Bilder und Erinnerungen hinein: Am geöffneten Wiener Fenster stehen eine Waschschüssel, ein Glas und ein kleiner Spiegel. Wer wollte mit Blick auf die Stadt hier seine Morgentoilette erledigen?
Mehr noch als das vom Licht überflutete Wiener Stadtbild sind es die geöffneten Fensterflügel und das Fensterbrett mit dem kleinen Stillleben, die die Komposition tragen. Eschers Bilder zeichnen sich überwiegend dadurch aus, dass sie wohl die Schönheit alter Architektur beschwören, aber sie oft nur ausschnitthaft als Kulisse nutzen, vor der dann die alltäglichen Dinge menschlichen Lebens zu beredten Zeugen oder gar Akteuren werden können.
Magischen Charakter erhalten diese Dinge in der Zeichnung Zeitungsständer. Sie gehört zu der Serie der Caféhausbilder Der Betrachter schaut nur aus der Perspektive des Vorübergehenden in das weite, leere Café. Das eigentliche Interesse des Zeichners gilt den Haken und Aufhängevorrichtungen im Eingangs- und Durchgangsbereich. Zum zentralen Motiv wird der runde, dicht behängte Zeitungsständer. Die Zeitungen sind Symbole der aktuellen Gegenwart und zugleich der raschen Vergänglichkeit. Werden oder wurden sie genutzt? Die Fülle steht im krassen Gegensatz zur Leere des Caféhauses. Doch jemand muss da gewesen sein: Der einsame Mantel im Kleiderhaken ist ein untrüglicher und zugleich rätselhafter Beweis. Wir blicken auf eine verlassene Bühne – wie auf eine erstarrte Endspielsituation.
Das Bild Café in Vevey ist ganz ähnlich angelegt: Ein Pfeiler mit Kleider- und Zeitungshaken nimmt die Mitte ein. Trotzdem hat Escher dem Blatt eine ganz andere Wendung gegeben, weil rechts in der Ecke ein Mann zu erkennen ist, zwar schemenhaft nur, aber doch unübersehbar. Die Szene wird mithin zum lebendigen Ereignisfeld.
Beim Durchwandern der Ausstellung werden Sie bald merken, dass Escher in jüngster Zeit häufig seine Kompositionen in ähnlicher Weise belebt hat. In Cafés, Basargängen und Bibliotheken tauchen vielfach Schatten und Schemen von Menschen auf. Ihre Körper gewinnen nicht die Festigkeit der Dinge. Es ist, als wären sie nicht zu fixieren, als würden sie durch die Bilder hindurcheilen. Die Szenerien sind aus der Vergangenheit gelöst und In die Gegenwart geholt worden.
Sie sehen, Rolf Escher inszeniert seine Bilder mit Bedacht, er benutzt die gefundenen Motive für immer neue Geschichten Damit komme ich zur letzten Kategorie, In der die Wirklichkeit vollends zurückgelassen wird. Schon früher, als er vornehmlich stilllebenhafte Kompositionen schuf, offenbarte Escher eine Neigung zum Magisch-Absurden und Grotesken. Auch heute noch liebt er es, eine Konstellation so zuzuspitzen, dass sie ins Surreal-Komische umkippt. Manchmal wird erst der Titel zum Schlüssel, der den Zugang zu diesem Verständnis öffnet, etwa wenn der Einblick in das Piccolo Teatro Siena unter dem Motto Die Privilegierten steht: Die aufgereihten Theatersessel werden zu Repräsentanten derjenigen, die auf ihnen sitzen.
Die Groteske spitzt sich In der 2. Fassung des Friseursalons in Lissabon zu. Da haben sich die Wasserschläuche gegenüber der ersten dermaßen vermehrt, dass der ganze Salon am Tropf zu hängen scheint. Eine ähnliche Vermehrung h auch in dem Bild Erinnerung an Venedig stattgefunden. Da scheinen die herumliegenden und -fliegenden Zeitungen den ganzen Platz zu überspülen. Und schließlich erwecken die gestapelten Stühle im Theater im Bockenheimer Depot den Eindruck, als würden sie für sich selbst eine Szene nachspielen.
Der Zeichner formt die Realität nach seinem Bilde. Wohl hält er sich an die in der Wirklichkeit gefundenen Formen, auch widmet er ihnen seine zeichnerische Liebe und Kraft, um sie fühlbar und greifbar werden zu lassen, doch er nutzt sie, um sie neu und anders einzusetzen, um aus und mit ihnen Szenen zu entwickeln und Geschichten auszuspinnen.