Die Flüchtigkeit des Augenblicks

Rolf Escher hat in 25 Jahren ein vielschichtiges zeichnerisches und grafisches Werk geschaffen. Obwohl er seinem Themen- und Formenkanon über die Jahre hinweg weitgehend treu geblieben ist und sich keine großen Brüche zeigen, fordern seine Bilder zu immer neuen Betrachtungsweisen heraus. Seine Entwicklung verlief zuweilen dialektisch. Nach der Verfestigung der Zeichnung und der Konkretisierung des Raumes in den 70er Jahren ging er in den letzten Jahren dazu über, durch die Einbeziehung von Tusche und Aquarell die zeichnerische Strenge aufzuweichen. Außerdem trat neben den Stillleben-Typus eine Werkgruppe, in der die flüchtige Bewegung an Bedeutung gewann. Zudem überlagern gelegentlich konstruktive Prinzipien die Motive. Einige wenige Ergebnisse dieser Entwicklung sollen hier betrachtet werden.

I. Die Welt als Bühne
Jede Form von Kunst birgt eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Die Komposition einer monochromen Fläche hat ebenso viel mit der Realität zu tun wie die Darstellung eines illusionären Raumes. Daher ist es ein Missverständnis, die Frage nach dem Verhältnis zur Wirklichkeit immer nur dann verschärft zu stellen, wenn man Formen der uns umgebenden Welt in einem Kunstwerk wiederentdeckt, zumal gerade da der simple Realismus- Begriff leicht in die Irre leiten kann.

So würde man gar nicht zum Wesen von Rolf Eschers Schaffen vordringen, wollte man ihn schlicht als Realisten einordnen. Gewiss: Mit Ausdauer studiert er die Dinge – den Stuhl und den Tisch, die Bürste und den Spiegel, die Treppe und das Mauerwerk – um sie in immer neuen Konstellationen ins Bild zu bringen, und systematisch reist er durch die Lande, um Eindrücke von leeren Plätzen und alternden Fassaden, von Räumen und Aueblicken festzuhalten und zu verarbeiten. Aber er zeichnet nicht ab. Vielmehr nimmt er seine eigenen Bilder auf die Reisen mit, um Situationen und Räume zu suchen, in denen er sie konkretisieren kann. „Wenn ich Glück habe,“ so meint er, „finde ich ein Motiv, in dem mir das entgegenkommt, was ich suche.“ Hat er das Glück nicht, formt er es um, bis es seinen Vorstellungen entspricht; und oft genug löst ein Motiv Visionen aus, die ihren eigenen Gesetzen folgen.

Rolf Escher nutzt die Formen der sichtbaren Welt als Staffage. Er inszeniert seine eigene Wirklichkeit, in der die der Realität entnommenen Elemente zu Ausstattungsstücken werden. Er schafft in seinen Bildern eine Bühne, die zu Dramen, vorzüglich zu absurden Komödien, einlädt.

Unübersehbar ist dies in der aquarellierten Zeichnung „Endstation in Wien“ (1992). Da drückt der Vorplatz den im Stil eines Palastes gebauten Bahnhofseingang, der Anlass für die Komposition war, in das obere Drittel des Bildes. Die Distanz zum eigentlichen Bildgegenstand wird groß, das Motiv schrumpft. Dafür verwandelt sich der gewöhnliche, mit Platten belegte Platz, dessen rechte Hälfte durch das Licht ausgelöscht wird, in eine Spielfläche: Die vier Koffer im linken Vordergrund, einer davon in eine aufplatzende Schutzhülle gesteckt, dienen nicht bloß als Verweis auf die Bahnstation. Sie stehen für ein Stück, das aufgeführt worden ist, dessen Handlung wir aber nur erahnen können.

Die hier beschriebene Beobachtung ist auf weite Teile von Rolf Eschers Werk zu übertragen. Der Zeichner entwirft in seinen Bildern Szenarien, die Dinge werden bewusst artifiziell arrangiert. Das lange Tuch liegt nicht wie zufällig auf den Stufen, sondern in jener überdeutlichen Art, dass man auf die verborgene Geschichte gestoßen wird („Treppe mit Tuch“, 1973); und die drei verhüllten Sessel vor dem Berg gestapelter Stühle drängen sich wie Richter oder die Vorsitzenden einer Versammlung nach vorn („Verspäteter Auftritt 3“, 1982).

Der Zeichner formt die Welt. nach seinem Bilde. Unter seiner Hand entstehen Geschichten, die auf die Flüchtigkeit eines Augenblicks
verkürzt sind. In den meisten Fällen verfestigen sich die Kompositionen zu Stillleben; in denen selbst Menschen zu dingartigen Erscheinungen werden.

II. Stillstand und Bewegung

Vor der Abreise, nach der Ankunft – eine Welt im Wartestand. Endspielsituationen. Die vollzogenen Bewegungen sind zu spüren, aber sie sind vorüber: „Der Hummer 1“ (1970) auf dem Schrank ist ein Stillleben-Motiv; dennoch wirkt er kraftvoll und hellwach, denn die Fühler sind wie Antennen ausgefahren. Die Kissen; Decken und Jacken haben derart übermächtig von den Stühlen Besitz ergriffen; dass man sie selbst als Zuschauer und Akteure begreifen möchte („Stuhlreihen“, 1985).

Jüngere Arbeiten allerdings folgen nicht unbedingt diesem Prinzip. Dem Stillstand stellt sich ein Moment der direkten Bewegung entgegen. Die Flüchtigkeit des Augenblicks wird zur Methode. Ansätze dazu gab es sehr früh. Doch aus dem anscheinenden Nebenpfad ist mittlerweile ein zweiter Hauptweg geworden.
1973 und 1976 schuf Rolf Escher zwei Mappenwerke; die erste Radierserie war in der Auseinandersetzung mit Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ entstanden, die zweite erhielt den spielerischen Titel „Versuche, einen Krebs zu begreifen“. In diesen Radierserien wandte sich Escher vorn Stillleben ab und porträtierte Stationen von Handlungen – die Verwandlung des Gregor Samsa in einen Käfer und dessen Vernichtung sowie die vorsichtig-liebevolle Annäherung des Grafikers an sein Motiv (so dass die Folge auch die künstlerische Arbeit spiegelt). Im Umfeld der Mappenwerke ergab sich eine Reihe von Bildern mit ähnlichen Szenarien. Erstmals hatte Rolf Escher dieses Thema aufgegriffen, als er 1972 die beiden Fassungen der Radierung „Der Emporkömmling“ anfertigte: Auf eine Kornmodenplatte krabbelt eine große, torsohafte Käferfigur – eine Vorstufe zu der Serie „Die Verwandlung“, in der der Käfer auf den Schrank klettert. Doch dem Grafiker ging es nicht um die Bewegungsstudie oder um das Wechselspiel von Ruhe und Dynamik, sondern um seine eigentliche Thematik, um das Stillleben und dessen Beherrschbarkeit, um das Eigenleben der Motive. „Bedrohtes Stillleben“ nannte Escher 1975 folgerichtig eine Radierung, in der sich ein Hummer aus einer Kaffeemühle heraus auf die vor ihm liegende Fläche und damit auf den Betrachter zubewegt. Das Stillleben gerät in Gefahr, das eigentlich tote Wesen läuft davon. Noch drastischer ist dies in dem Blatt „Der Eindringling“ dargestellt, in dem ein Hummer seine Fühler und Scheren durch ein zerbrochenes Glas hindurch aus einem Bild herausstreckt.

In all diesen Arbeiten sind die Akteure, die Käfer, Krebse und Hummer sowie die Hände, die nach ihnen greifen, mit großer Sorgfalt und Festigkeit ausgeführte Formen. Im Grunde sind sie Bestandteile von Stillleben, die aus dem Gleichgewicht geraten sind. Die Elemente der Stillleben-Komposition sind vorhanden, doch die porträtierten Dinge ordnen sich nicht dem Willen des Künstlers unter.

Ganz anders verhält es bei in den letzten Jahren entstandenen Arbeiten, in denen Menschen in die Räume Bewegung hineinbringen. Nur in Ausnahmefällen verfestigen sich diese Gestalten zu greifbaren Körpern. Sie bleiben oft schemenhaft; Träger von Bewegungsspuren, Zeichen für das durch die Räume hindurch laufende Leben. Bereits 1987 hatte Escher solche Figuren in seine Radierung „Café Pedrocchi“ eingebunden: Man blickt in einen hohen und dunkel-massiven Raum, der von zwei Fenstern erhellt wird. Ein kleiner Dreieckstisch steht vor einer gepolsterten Eckbank. Der Raum ist leer; doch die aufgeschlagene Zeitung auf der Bank und die Glasgefäße auf dem Tisch verraten, dass da mindestens ein Gast gesessen haben muss. Nun aber ist niemand da, der Raum ist der Zeit entrückt. Hinter dem rechten Fenster allerdings sind auf der Gasse zwei Passanten zu erkennen, ein Mann und eine Frau, zwei Schatten nur. Sie sind kaum fassbar; aber sie beleben die Szenerie. Gegen die eingefrorene Situation setzen sie Dynamik. Die in dem Raum verlorene Zeit findet sich draußen wieder.

Vier Jahre später tauchen in der Zeichnung „Café in Wien“ schemenhafte Gestalten auch in der inneren Szenerie auf. Ganz am rechten Rand ist nur schwach eine Figur zu erkennen, deutlicher in der Mitte ein Mann in der Haltung eines Lesenden. Das sind keine stilllebenhaften Figuren mehr, sondern knapp angedeutete, sich bewegende Wesen. Sie werden nicht wie in den früheren Bildern zu Bestandteilen des Interieurs, sondern sind nur zufällige und sich wieder verflüchtende Erscheinungen. Ihre skizzenhafte Präsenz sorgt für Belebung.

Ähnlich geht Escher mit den menschlichen Figuren in den Zeichnungen aus der Pariser Bibliotheque Nationale (1991) und der Börse in Barcelona (1. Fassung, 1993) um. In dem Börsen-Bild drängen sich schattenhafte Figuren im Hintergrund. Auch im Salle Labrouste der Pariser Bibliotheque Nationale sind hinter den erhöhten Lesepulten Schemen in Bewegung zu erkennen. Doch hier erweitert der Zeichner die Ausdrucksbreite: Während links im Vordergrund der Schatten einer Figur nur hingehaucht ist, eilt rechts vorne eine alte Frau, von der man nicht viel mehr als den Kopf sieht, durch das Bild. Escher arbeitet in diesem Fall mit dem Mittel der fotografischen Unschärfe. Wohl verfestigt sich der Kopf zu einem Porträt, doch fransen die Konturen nach hinten aus, um die Bewegung zu verdeutlichen.
Rolf Escher hat für sich einen zusätzlichen Weg beim Umgang mit der menschlichen Figur erschlossen. Verwandelten sich früher die Menschen in Teile des Inventars, so heben sie sich nun deutlich von den porträtierten Räumen ab. Während die Säle und Zimmer zu Denkmälern ihrer selbst geworden und aus der Zeit herausgelöst sind, geraten die Figuren nur als zeitweilige Gäste hinein. Es ist, um noch einmal die Fotografie vergleichend zu bemühen, als hätten wir Bilder vor uns, die nur durch minutenlange Belichtung gewonnen werden konnten, so dass sich die Menschen, die sich währenddessen dort vorübergehend aufhielten, nur als Schemen wiederfinden. Auf einmal ist auch eine Lust an der Darstellung von drangvoller Enge da, wie eine schon 1987 aus Mailand mitgebrachte Zeichnung beweist
Aber die Skizzenhaftigkeit der menschlichen Figur deutet noch in eine andere Richtung: In der Zeichnung „Friseur-Salon-Spiegel (Lissabon)“ von 1992 rücken die Stillleben-Utensilien des Friseurs, die unterhalb des Spiegels aufgereiht sind, in den Hintergrund. Den Mittelpunkt bildet ein Kunde, der – mit Frisurumhang – in der weiten Spiegelfläche zu sehen ist. Auch hier ist die Figur nur skizzierend angedeutet. Am Kopf verdichtet sich zwar die Zeichnung, das Gesicht konkretisiert sich auch, doch bleibt es wie unter einer Strumpfmaske profillos. Eine Erscheinung nur, ein Mensch zwischen Leben und Tod.

Nun gibt es eine Alternative zu den Stillleben und menschenleeren Stadtansichten. Mit dem nur skizzenhaft umrissenen Menschen kehrt die Zeit in Eschers Bildwelt. zurück.

III. Licht und Leere

Die Handzeichnungen, Radierungen und Lithographien von Rolf Escher sind nie Einzelstücke. Immer kristallisieren sie sich aus einer Fülle von Skizzen und Studien heraus, häufig entstehen verwandtschaftljche Blätter, feinsinnige Variationen. So spontan eine Bildidee ausformuliert wird, so planmäßig ist sie vorbereitet worden. Das Motiv mag den Zeichner angelockt und gefesselt haben, am Ende ist es doch nur der Anlass für eine Reihe von
Kompositionsstudien: Wie stellt sich ein Raum dar, wo verfestigt er sich und wo verflüchtigt er sich? Wie ordnen sich die Dinge zueinander, was wird vorn Licht aufgesogen, was vom Schatten verschluckt? Die Zeichnungen und Grafiken, die aus diesem komplexen Fertigungsprozess hervorgehen, haben viele Entwurfs- und Studienphasen durchlaufen, sie sind gereift und vollendet. Gleichwohl haftet ihnen etwas Vorläufiges und Zufälliges an, denn immer wieder zerfließen einzelne Formen, laufen fest gebaute Kompositionen in lockere Linien aus.

Das Skizzenhafte ist zu einem Formen bestimmenden Element in Eschers Werk geworden: Der plastisch (mit Bleistift und Aquarell) herausgearbeitete „Opferstock“ (1990) mit seinen massiven eisernen Beschläge und Schlössern verliert gerade da an Substanz und Volumen, wo er besonderer Festigkeit bedarf – im Sockelbereich. Es ist, als hätte der Zeichner alles Wesentliche über das kuriose Ungetüm gesagt. Den Rest mag man sich denken – da reichen ein paar knappe Schraffuren. Nicht viel anders geht Rolf Escher bei der bedrückenden Zeichnung „Die Vergessenen“ (1990) vor. Mit großer Detailgenauigkeit zeichnet er einen Berg aus alten Koffern. Aber nach oben und zum Rand hin schwindet allmählich die Plastizität. Einige Koffer werden nur noch in Umrissen angedeutet, andere verschmelzen nahezu mit der dahinter stehenden grauen Wand.

„Das Problem ist: Wo höre ich auf?“ Rolf Escher will nicht, wie er bekundet, das Motiv zu sehr konkretisieren. Ihm geht es weder um das Abbild noch um ein Porträt, eher um Beschwörung und Erinnerung, um die Möglichkeiten des Bildes. Der Zug zum Skizzenhaften bewahrt die Blätter vor falscher Eindeutigkeit. Die Zeichnung bietet sich als ein Ausschnitt an. So bleibt ungewiss, vie hoch der Sockel des Opferstocks ist und wo der Kofferberg endet. Dank der Offenheit setzt sich das Rätselhafte gegen die Perfektion durch.

Es gibt nur ganz wenige Arbeiten von Escher, in denen die Kompositionen bis zu allen vier Ecken und Rindern hin voll ausgestaltet sind. Überraschend allerdings ist, dass das nicht immer auf Anhieb bewusst wird. Häufig komplettiert unser Wahrnehmungsvermögen die Darstellung, so dass wir erst beim zweiter Hinsehen erkennen, wo die Formen lediglich angedeutet sind.

Gelegentlich aber radikalisiert Rolf Escher die skizzierende Gestaltung. Die Feder- und Aquarell-Zeichnung „Häuser-Reihe in Güstrow“ (1991) ist signalhaft als Studie angelegt: Die vier nebeneinander stehenden Häuser (vor dunklem Himmel) verlieren sich nach unten, so dass der Zeichner in den weißen Freiraum eine weitere Giebelfront andeutend hineinsetzen konnte. Diese zweite :Front (die rechts außen durch einen angeschnittenen Kuppelbau noch eine Ergänzung erfährt) bringt Bewegung in die Komposition, indem sie eine klare Diagonale gegen die dominierende Häuserzeile setzt.

Auch die Bleistiftzeichnung „Café in Wien“ (1991) gewinnt ihre Kraft aus Diagonalen, die sich gegen das Motiv durchsetzen: Vor der prächtigen alten Wand mit ihren holzverkleideten Pfeilern und hohen Fensterbögen sind fünf runde Caféhaustische mit Stühlen angedeutet. Zur linken unteren Ecke jedoch bleibt die Fläche weiß und leer. Im flachen Winkel zieht sich eine Diagonale wie eine Lichtschranke durch den Raum, die ihn in zwei Dreiecke teilt – in ein langgezogenes leeres (helles) sowie in ein mit Tischen und Stühlen bestandenes. Hier wird die Offenheit zum bestimmenden Prinzip, durch das Bild des alten Caféhauses scheint ein konstruktives Konzept hindurch, das bis in die Wand- und Fensterfront hinein wirksam bleibt.

Klar ist, dass Escher dort die Zeichnung zurücknimmt, wo er den Glanz des Lichts einbringen will. Die Linien verlieren an Intensität, die Schraffuren lösen sich auf, das Weiß triumphiert. An den Holzverkleidungen und Tischen im Caféhaus-Bild sind die Spuren den Lichts schnell abzulesen. Doch der Zeichner lässt offen, ob das langgezogene weiße Dreieck ebenfalls ein Lichtgeschöpf ist oder ob es nicht eher als ein übergeordnetes Formenprinzip in die Komposition einbricht und ihr eine neue Wendung gibt.

Die offene, leere Fläche prägt genauso die Kompositionen von Rolf Escher wie die mit großer Liebe zum Vergänglichen gestalteten Details. Wenn wie bei der Tuschfederzeichnung „Gefährdeter Übergang“ (Schlossbrücke in Dresden, 1991) die Gebäude, die die Brücke tragen, in der Undeutlichkeit verschwimmen, dann dient dieses Kompositionsmittel natürlich erst einmal dem Zweck, das Eigentliche, also die barocke Brücke, umso plastischer herauszuarbeiten. Die weiße Leere auf der linken Seite und die dunkel aquarellierte Fassade auf der rechten akzentuieren zwar Licht und Schatten. Doch dieser Aspekt ist eher zweitrangig. Denn wären die beiden tragenden Bauten mit der gleichen Intensität gestaltet worden, hätte die Brücke in der Zeichnung nicht diese unglaubliche Kraft und Dynamik entfalten können.

Aus der Einzelbeobachtung lässt sich kein durchgängiges Prinzip ableiten. Mal nutzt Escher das skizzierende Element, um (wie in der Lithographie „Wiener Fenster“, 1993) das schräg einfallende Licht sichtbar zu machen, dann wieder setzt er es ein, um das Motiv dem Eigengesetzlichkeit der Komposition unterzuordnen. Ein hervorragendes Beispiel für diese Kraft, die sich gegen das in der Wirklichkeit gefundene Motiv durchsetzt, ist die Feder- und Aquarell-Zeichnung „Zeitungsständer“ (Salzburg, 1991). Im Zentrum steht der runde, zweistöckige Zeitungsständer. Den Zeichner interessierten an ihm die im Rund angeordneten Haken und der Rhythmus der daran hängenden Halter und Zeitungen. Ein paar Zeitungsseiten sind mit ihrem grafischen Erscheinungsbild angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt. Alles steht im Dienst der Formensprache, die das Zeitungskarussell entfaltet. Der Ständer hält Lektüre für ein großes Caféhaus vor, doch dieses Café mit seinen dicht gestellten Stühlen und Tischen ist leer. Ganz unmittelbar stellt sich eine inhaltliche und formale Wechselbeziehung zwischen dem Zeitungsständer und den Tischen sowie den Stühlen her: Zwei Reihungsprinzipien begegnen sich; zudem lässt die Fülle (der Zeitungen und des Mobiliars) die Verlassenheit noch fühlbarer werden. Die Leere wird außerdem dadurch verstärkt, dass von der ehrwürdigen und vielleicht sehenswerten Architektur links nur der Anfang eines runden, reichlich gealterten Treppenhauses und im Zentrum der Rundbogen eines hohen Durchgangs zu sehen sind. Die Weite und Höhe des Saales kann man nur zu erahnen, der Zeichner lässt sich nicht näher auf die Architektur ein. So spiegelt sich die an den Tischen herrschende Leere doppelt in dem sich darüber öffnenden Raum.

Überdeutlich ragt in dieses Nichts von rechts ein Doppelhaken hinein, an dem ein einsamer Mantel hängt. Der Haken dominiert die Architektur und baut sich als Widerpart zu dem Zeitungsständer mit seinen Haltern und der krönenden Kugel auf. Nicht die Wände, Decken und Säulen bestimmen die Formensprache, sondern das zur Aufbewahrung dienende Inventar: Von dem großen Haken rechts führt über den Zeitungsständer eine Linie ins Treppenhaus, in dem ebenfalls drei Haken angebracht sind. Das Banale erobert die Welt. Der Zeichner verhilft ihm zur Bedeutung.

IV. Die zweite und die dritte Ebene

Nun ist der Leerraum in der Zeichnung „Zeitungsständer“ nicht völlig ungestaltet geblieben. Über einen großen Teil der Fläche erstreckt sich eine dunkle Wolke, die mit dem Aquarellpinsel aufgetragen worden ist. Auch unten im Saal, auf und zwischen den Tischen und Stühlen, auf dem Zeitungsständer und auf der
Treppenhauswand, sieht man dunkle Aquarellflecken. Es können Raum bildende Schattenzonen sein, die die helleren Flächen als Lichtzonen hervortreten lassen. In der Tat dient die Aquarell-Übermalung der Kontrastierung. Aber sie ist zu grob und zu ungenau eingesetzt, als dass sie als Lokalfarbe missverstanden werden könnte. Gewiss verwendet Escher die Aquarellfarben gelegentlich (wie etwa in „Endstation Wien“) durchaus kolorierend. Doch die Farbe betont und unterstützt nicht nur, sondern entwickelt ein Eigenleben. Die Braun- und Blautöne, die den Türen und Fenstern des Bahnhofportals zugeordnet sind, gehen über sie hinaus und machen sich in der Fläche breit.

In der Zeichnung „Werkstatt in Florenz“ (1986) scheint die Aquarellfarbe dem Zeichner ganz davon zu laufen. Die im Gewölbe zur Schattierung eingesetzten Farben fließen nach unten in langen Bahnen aus. Spätestens hier wird deutlich, dass das Aquarell weit davon entfernt ist, im Sinne der Perfektion die Bleistift-Zeichnung zu verdichten und zu überhöhen. Die Malerei legt sich vielmehr als eine zweite Bildebene auf das Blatt – manchmal effektvoll verstärkend, häufiger aber gegenläufig zur Komposition. Da trifft sich der Einsatz der Farbe mit dem Hang zum Skizzenhaften: Der Zeichner entfaltet seine Kunst, lässt auf dem Papier die Dinge und Räume Form und Proportion gewinnen, um dann abzubrechen und sich selbst zu korrigieren, um zurückzunehmen und zu (zer)stören, weil es nicht um das einfache Abbild geht, sondern um die vielschichtige Komposition.

Rolf Escher will, so sagt er, das Sterile der Zeichnung aufbrechen, die Fläche zum Atmen bringen und sie in Schwingungen versetzen. Frühzeitig hatte er sich vom rein weißen Karton abgewandt. Den Reiz der tonigen Fläche hatte er im Umgang mit der Radierung schätzen gelernt. So wählte er für die Zeichnungen farbig getönte Kartons, bis er dazu überging, die Papiere aquarellierend einzufärben. Aber solange es einen einheitlichen Untergrund gab, war die Farbe noch nicht gegen die Zeichnung gerichtet.

Doch Escher bedurfte der Farbe nicht, um seine Kompositionen aus gegenläufigen Bewegungen zu entwickeln. In der Bleistiftzeichnung „Teatro sociale, abandonnato 2“ (Bergamo, 1985) hat er (im Sinne der Aquarellmalerei) bereits eine zweite Bildebene durch Bleistift-Schraffuren und Schabtechnik eingeführt. Und in der „Werkstatt in Florenz“ sucht sich nicht nur die Aquarellfarbe ihre eigenen Wege – auch der Bleistift, der das Gerüst der Zeichnung aufgebaut hat, geht mit nervösen Linien über den unteren rechten Teil hinweg.

Der Zeichner Rolf Escher ist immer auch ein Maler geblieben – selbst oftmals dort, wo er sich der Farbe gar nicht bedient hat. In den letzten Jahren allerdings hat sich die malerische Natur als eine zweite Kraft durchgesetzt. Die Zeichnung „Ladeneingang“ (Barcelona, 1993) ist ein Musterbeispiel dafür: Da legt sich die Aquarellfarbe wie ein Schattengerüst über die Zeichnung (die schräg einfallenden Sonnenstrahlen modellierend) und behauptet sich zugleich als eine eigenständige, die Formen auflösende Kraft.

Wenn man hingegen die Feder- und Tuschezeichnung „Gottesacker“ (Halle, 1991) nimmt, dann sieht man schnell, dass hier ganz anderes zur Debatte steht. Ähnlich wie bei der eingangs erwähnten Zeichnung „Endstation in Wien“ ist das eigentliche Motiv in die obere Hälfte gedrückt. Rund 60 Prozent der Fläche hat der Zeichner außer acht gelassen. Ein weiter leerer Platz erstreckt sich im Vordergrund. Verlassene Landschaft. Doch ist sie nicht leblos: Mit grau-brauner Tusche ist der unterste Bereich eingefärbt – ein Schattenwurf vielleicht. Doch das ist unerheblich, weil diese diagonal begrenzte Farbzone zum kraftvollen Gegengewicht der kolorierten Zeichnung wird und weil durch die Einfärbung Buchstaben als Bestandteile des Wasserzeichens aus dem Untergrund durchscheinen. Durch die zweite Ebene wird eine dritte erschlossen. Die zeichnerische Komposition wird gebrochen und der illusionäre Bildansatz auf die Materialebene zurückgeführt: Der komponierte Raum besteht eben doch nur aus bearbeitetem Papier. Das verschafft Desillusionierung und grafische Bereicherung zugleich. Auf neue Weise dringt die Sprache der Wirklichkeit in Eschers Bildwelt ein.

Sommer 1994

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