Das Ausgesparte

Drei Stühle Eine 1974 entstandene Zeichnung Rolf Eschers trägt den Titel „Drei Stühle“. Auf dem Bild zu sehen sind drei ausgediente Stühle, von denen der eine mit seinem geborstenen Korbgeflecht unbrauchbar ist und die beiden anderen durch hingeknüllte Tücher oder Vorhänge reichlich verdeckt sind. Die Stühle nehmen eindeutig den Mittelpunkt der Zeichnung ein, unterstützt durch die Verdichtung der dunklen Bleitöne und den Verweis im Titel.

Trotzdem erhält die Zeichnung für mich durch ein anderes Element Gewicht: In dem Vielerlei des Hell- bis Dunkelgrau der Wand, auf die die Schatten der Stühle fallen, sind rechteckige Tonabstufungen erkennbar; Haken weisen darauf hin, dass an dieser Wand einst Bilder hingen. Es sind nur ein paar hauchzarte Nuancen der Grautöne und ein paar fast kaum merkliche Linien, die dies markieren. Sie genügen aber, um die abgehängten Bilder, von deren Charakter man nichts weiß, zu zentralen Objekten aufsteigen zu lassen und den Auszug, der aus diesem Raum stattgefunden haben muss, als endgültig erscheinen zu lassen. Die Stühle benutzt man nicht mehr; hier wohnt man nicht mehr; die Zeit dieses Raumes und seiner Möbel ist um.

Doch nicht die inhaltliche Deutung ist es, die mich bewegt, sondern die zeichnerische Leistung, der es gelingt, mit einigen Linien und Abstufungen in der Schraffur die Abwesenheit von etwas so prägend darzustellen, dass es nahezu präsent scheint. Die Zeichnung aktiviert die Vorstellungskraft, die Spuren dessen zu lesen, was längst aus dem Bild verschwunden ist.

Ein anderes Blatt, die mit 1972 datierte Zeichnung „Ausblick“: Zwei Fenster, die den Blick freigeben in eine nachtschwarze Ungewissheit; vor dem einen ein kunstvoll drapiertes Koffer-Stillleben, vor dem anderen eine sitzende alte Frau mit erwartungsvollem Blick in die Dunkelheit. Wieder einmal soll die inhaltliche Seite des sozialkritisch deutbaren Motivs außer acht gelassen werden. Es geht um die Zeichnung an sich, die sich realistisch gibt und durch die harte Genauigkeit in den Details den Realismus als Prinzip pflegt. Dennoch weist sie über die Realismus-Gesetze hinaus, weil sie die Offenheit der Skizze mit hinein nimmt. Das Bild wirkt vollendet, wird als fertig akzeptiert, verweigert sich aber den letzten abrundenden Bleistiftstrichen, indem etwa die obere Partie des rechten Fensters nur angedeutet bleibt.

Auf Anhieb ist kein rationaler Grund zu nennen, warum etwa die rechte Gardinenleiste nur in Umrissen markiert wurde und der Zeichner ihr nicht die gleiche substantielle Festigkeit und Fixierbarkeit verlieh, wie er es bei der linken tat. Natürlich fällt es nicht schwer, in diesem Offenlassen der wenigen Details eine der Ursachen dafür zu erkennen, dass in die Strenge des Szenariums Bewegung kommt und die Starrheit aufgehoben wird. Die wesentliche Leistung dieser zeichnerischen Offenheit ist aber darin zu sehen, dass die realitätsbezogene Darstellung in den überwiegenden Bildteilen Augen und Vorstellungskraft des Betrachters derart in Bewegung und Einklang bringt, dass auch das Skizzenhafte als ausgeführt angesehen wird.

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Der Betrachter setzt die Arbeit des Zeichners fort, ohne es zu merken. Selbst das Ausgesparte gilt noch als eingebracht, wenige Linien der Andeutung genügen. Die realistische Darstellungsweise Eschers in den zentralen Bildelementen weckt genügend Vertrauen, um insgeheim gedanklich fortgeschrieben zu werden. Diese höchst raffinierte Zeichentechnik lässt sich an verschiedenen Blättern (wie „Ausgewiesen“, 1973) ablesen und hat doch, trotz der Verwandtschaft, mit der Technik kaum etwas gemein, die Escher in dem Blatt „Drei Stühle“ angewendet hat:

Während hier die Aussparung in der Zeichnung eine Aufforderung zur Vollendung der Zustandsbeschreibung enthält, wird dort das Skizzieren des Nicht-Vorhandenen zum Bericht über einen abgeschlossenen Vorgang. Verbindend allein ist das Formale, das im Weglassen und Aussparen den Bildmotiven Bewegung verschafft und mit zu dem Sprung aus der greifbar-nachprütbaren Wirklichkeit in die magische Realität verhilft.

Später BesuchIch habe gerade von der Bewegung in Eschers Bildern gesprochen und muss stutzen. Bewegung im üblichen Sinne ist diesen Zeichnungen und Radierungen fremd. Wollte man die Blätter aufzählen, in denen ein (kommunikativer) Bewegungsvorgang ablesbar ist, wäre die Aufzählung etwa mit der Serie zu Kafkas „Verwandlung“, der „Befragung“ und dem „Besuch“ bald erschöpft. Dem Zeichner Escher, so scheint es, gerät das meiste zum Stillleben. Selbst der Mensch wirkt wie drapiert, ist von keiner anderen Qualität als die abgestellten Möbel.

Und doch ist von Bewegung zu reden, da die Erstarrung der Menschen, Räume und Dinge ja die Endstufe eines Prozesses ist, von dem die Bilder erzählen: Vergessen, ausgewiesen, abgestellt, entfremdet — das sind zwar Stichworte für trostlose Zustände, doch holen die Bilder die Erinnerung an die Verfallsprozesse ein. Endstadien sind erreicht, und die zuvor durchschrittenen Ebenen werden zugleich vorstellbar.

Die Vorgeschichte der Bildzustände wird angedeutet, aber nicht erzählt oder erklärt. Bewegung entsteht. Vor allem gilt das für die Blätter, deren Rolf Escher offenbar nicht mehr Herr wird. Diese Bilder scheinen eigenen, festen Gesetzen unterworfen, die nur ganz bestimmte, zufällige (Wirklichkeits-)Ausschnitte zulassen.
Noch in der 1971 entstandenen Zeichnung „Altersheim“, ein Schrank mit symmetrisch geordneten Seetierkadavern, gab es dieses Problem und diese Bewegung nicht. Der Schrank mit seinen geöffneten Türen nahm millimetergenau die Bildmitte ein und schuf so die Grundlage zu einem Raster mit Mittel- und Randpunkten.
Rolf Escher hat bis heute eine gewisse Vorliebe für so streng angeordnete Weltsichten beibehalten und (wie bei der Radierung „Vergessenes Fenster“, 1976) sich die Möglichkeit geschaffen, das Bildmotiv ohne den obligaten ein- und unterordnenden, rechteckigen Rahmen zu gestalten. Hier gibt sich Rolf Escher ganz als Souverän der Bilder.

In den letzten drei, vier Jahren sind aber die Blätter zahlreicher geworden, die sich diesem mittelpunktorientierten Blick verweigern und augenscheinlich nebensächliche Ausschnitte vorführen. Das Bild, so scheint es, war vorgegeben, der Künstler hatte es nur auszufüllen. Das Wesentliche ist ausgespart oder so sehr an den Rand gedrückt, dass es aus dem Bild zu fallen droht.

Interieur mit SpiegelEin gutes Beispiel dafür ist die Zeichnung „lnterieur mit Spiegel“ (1974), die einen nichtssagenden Raum zeigt, in dem neben dem Spiegel vor allem die in den Raum ragenden Beine einer sitzenden Frau auffallen. Mehr abgestellt kann ein Mensch gar nicht sein, als wenn sogar eine Bildperspektive den vollen Blick auf den weggedrängten Menschen verhindert.

Wäre die Frau ganz dargestellt, hätte sie eine der wartenden Figuren in Eschers zeichnerischem Altersheim abgegeben, ohne vielleicht groß aufzufallen. So aber läßt der radikale Schnitt eine knisternde Spannung entstehen, die bewegt. Das Aus-dem-Bild-Schieben des Vergessenen macht das Weggeschobene wichtig und zum eigentlichen Mittelpunkt. Das Ausgesparte prägt die Szene.

Frühjahr 1977

Copyright der Bilder: Rolf Escher

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