Wechselspiel zwischen Zeichnung und Malerei

Als vor über acht Jahren die Ausstellung Bücherzeiten vom Emschertal-Museum Herne aus auf Tournee geschickt wurde, war nicht abzusehen, welche ungeheure und nicht nachlassende Anziehungskraft die Bilder aus dem Reich der großen Bibliotheken entwickeln sollten. In immer neuen Zusammenstellungen wurde die Ausstellung in Museen, Galerie, Kunstvereinen und auch Bibliotheken präsentiert.

Sicherlich entspringt die Faszination dieser Motivwelt zu einem wichtigen Teil der Tatsache, dass seit dem Spätmittelalter und vor allem im Barock und Rokoko die Sammler der Bücher, die Fürsten und Äbte, ihren geschriebenen und gedruckten Kostbarkeiten die gleichen festlichen Räume zubilligten, die sie für sich selbst erbauen ließen. Die Bibliotheken waren Paläste des Wissens, Räume, die Ehrfurcht einflößten und bis heute zur Andacht verleiten. Nicht weniger bedeutsam ist, dass die Bibliotheksbilder in ihrer Vielfalt alles vereinen, was für Eschers Motivwelt bestimmend ist. Man stößt auf Bücher-Stillleben und auf monumentale Räume, in denen die Menschen verloren zu gehen scheinen; man erlebt Säle, die durch die barocken Wölbungen dynamisiert werden, und Dichter-Büsten dowie Statuen, die zu Leben erwachen. Die Bibliotheken werden ebenso zu Schauplätzen wie die italienischen Ansichten, die Rolf Escher davor, in den frühen 80er-Jahren, schuf.

In einer Zeit, in der die sinnliche Lesekultur in den virtuellen Bibliotheken abhanden zu kommen droht, ist die Versuchung groß, Eschers großartige Bilderwelt als Zeugin gegen die elektronische Moderne aufzurufen. Doch der Zeichner kommt solchen Versuchen zuvor, weil er selbst mit den uns umgebenden Gegensätzen spielt. So hat Rolf Escher die Petrarcabüste in der Biblioteca Marciana (Venedig) mit einem Computer-Monitor konfrontiert. Der Computer in diesem Bild allerdings hat nichts Bedrohendes. Eher wirkt er altmodisch und hilflos, ganz in dienender, untergeordneter Funktion. Er lenkt den Blick auf die Figur, erscheint wie ein auf die Büste gerichteter Scheinwerfer.

Die digitale Datenverarbeitung hat gerade auch für die Auseinandersetzung mit Eschers Bibliotheksbildern ihr Gutes. Wenn man nämlich per Bildschirm Zugriff auf die im Computer gespeicherten Bilder Eschers hat und man mit einem Klick etwa drei Dutzend der Bilder als Miniaturansichten zugleich aufrufen kann, dann gewinnt man plötzlich einen völlig neuen Zugang. Dann wird die Gewissheit, dass Escher sein Werk kontinuierlich mit der prinzipiell immer gleichen Handschrift entwickele durch den spontanen Eindruck verdrängt, dass jedes Blatt einen totalen Neuanfang bilde. Der gleichzeitige Blick auf die Vielheit verstärkt die Eigenart der einzelnen Arbeiten: Da tritt die Schwärze aus der Tiefe hervor, hier zieht sich die Zartheit der Linien bis an die Grenzen des Wahrnehmbaren zurück und dort treten die farbigen Akzente hervor. Oder: In der einen Zeichnung bestimmt der Rhythmus der Buchreihen die Komposition, bei der anderen glaubt man, die Schriftzeichen auf den Buchseiten fühlen zu können, und in der dritten dominiert der Fensterblick.

Rolf Escher ist ein Entdecker. Gern begibt er sich auf Reisen und hält vor Ort im Skizzenbuch fest, was sein Auge und seine Phantasie fesselt. Mal sind es die gotischen Spitzbögen, mal der Schwung eines Treppenaufgangs und dann wieder die Bücherregale, die sich im Spiegel zeigen. Aber der Zeichner formt die Welt nach dem Bild, das er von ihr hat. Die Welt, auch die der Bücher und Bibliotheken, wird für ihn zur Bühne, auf der er nach Belieben Requisiten platziert und austauscht und auf der er auch die Räume nach seinen Vorstellungen formt. Blickt man genau hin, offenbart sich oftmals, dass es oft gar nicht zentral um Bücher oder Bibliotheken geht, sondern um die Atmosphäre, das Klima der Räume. Ein sprechendes Beispiel dafür ist Wilhelm von Humboldts Bibliothek in Schloss Tegel, in der sich der Büchervorrat auf einen kleinen Schrank reduziert. Vornehmlich geht es in dem Bild um den Sammler Humboldt, der für viele schöne und erkenntnisreiche Dinge offen war. Die Komposition wird von dem weiblichen Torso beherrscht, den wir links von dem Schrank mit den bunten Buchrücken sehen. Von dort aus geht der Blick weiter zu der kleinen sitzenden weiblichen Figur, die auf dem Schrank steht und wie der Torso einen kräftigen Schatten wirft. Der Bücherschrank steht im Zentrum des Bildes. Doch Gewicht und Bedeutung gewinnt er erst durch die Elemente, die ihn vor und auf der Wand im Halbkreis einschließen – die plastischen Werke, die Schattenzonen und nicht definierbare Bilder bzw. Karten an der Wand. Der runde Tisch und die beiden Stühle im Vordergrund halten die Blicke nicht fest, sondern lenken sie zum Zentrum weiter, weil sie sich im intensiven Licht zurückziehen..

In Eschers Bibliotheksbildern überwiegen – wie in seinem Gesamtwerk – die Kompositionen der Leere: Man schaut meist in Räume, die sich selbst überlassen sind. Doch gelegentlich spürt man, dass da gerade noch jemand gewesen sein muss – wie in jener Zeichnung, in der man vor einem Spiegel vier Bücher auf einer Konsole liegen sieht. Die hat doch jemand dahin gelegt; die Spuren der Benutzer und damit des Lebens sind unübersehbar. Aber oftmals braucht der Zeichner gar keine Menschen zur Belebung. Dann holt er die Kraft der Bewegung und die Fülle des Lebens aus den Elementen der Architektur und vor allem aus den Büsten, Statuen und Plastiken, die die Bibliotheken bevölkern. In dem Blatt Bibliothek im Plantin-Moretus-Haus Antwerpen etwa treten die Bücherwände ganz zurück und bilden nur eine angedeutete Kulisse. Zwei Globen markieren den Gang, der nach hinten auf ein Kreuzigungsbild zuführt. Im Kontrast dazu sehen die fünf Porträtbüsten, die den Gang flankieren und die von dem Zeichner so ausgestaltet sind, dass sie wie menschliche Köpfe erscheinen. Sie repräsentieren das Leben, das sich eigentlich aus dem Raum zurückgezogen hat. Ähnlich verhält es sich mit der Zeichnung Universitätsbibliothek in Bologna, in der die barocke Innenarchitektur für Dynamik sorgt und eine prägende Rolle einnimmt.

Umso überraschender ist es dann, wenn Rolf Escher wirklich menschliche Gestalten seine Bühne betreten lässt. Der Bibliothekstraum birgt in den maskierten Gestalten eine Venedig-Reminiszenz. Diese im Blick auf Heinrich Heines „Harzreise“ entstandene Zeichnung ist in Wahrheit ein Totentanz um Mitternacht. Die Bibliothek droht im Chaos zu versinken. Wie beim Büchersturz in London fliegen und stürzen die Bücher aus der oberen Galerie. Auch die aufgestellten Leitern verheißen nichts Gutes. In dieser Bleistiftzeichnung kippt die schon immer ins Magische verweisende Kompositionskunst vollends ins Phantastische und Surreale.
Dazu passt die Bleistiftzeichnung Der Schriftsteller Borges in der Nationalbibliothek in Rio d.J., obwohl sie ganz streng-sachlich und auf den ersten Blick realistisch wirkt. Rolf Escher lässt links im Vordergrund den Schriftsteller Jorge Luis Borges bescheiden und fast unauffällig auftreten. Es handelt sich um eine mehrfache Hommage à Borges: Der argentinische Schriftsteller, der von 1899 bis 1986 lebte, war tatsächlich für einige Zeit der Direktor der Nationalbibliothek. Also beschwört die Zeichnung eine ferne Erinnerung. Zudem war er ein Autor, der sich in seinem Werk („Die Bibliothek von Babel“) mit der Welt der Bücher auseinandersetzte. Und schließlich war er ein Erzähler, in dessen Geschichten die Grenzen zwischen Realität und Surrealität verwischt und ständig überschritten wurden. Damit entsprach er in seiner Erzählkunst genau der künstlerischen Haltung, die Escher einnimmt.

Die surrealen und damit auch die ironischen Elemente spielt Rolf Escher souverän aus, wenn er den Tod als Bibliothekar oder als letzten Leser auftreten lässt oder wenn Käfer und anderes Getier in die Bibliotheken eindringen oder sich gar in Bibliothekare verwandeln. Man fürchtet geradezu um das Bücherstillleben, das bereits zu einem Bild (Radierung) geworden ist, wenn man im Vordergrund der Tusche-, Aquarell- und Farbstiftzeichnung Kleiner Überfall die Käfer sieht, von denen der größte bedrohlich seine Fühler auf die Bücher lenkt.

Bemerkenswert an der Zeichnung ist neben dieser inhaltlichen Ausrichtung der offensive Einsatz der Farben. Der Zeichner scheint so verschwenderisch mit ihnen umzugehen, dass sich die Farbspuren von den Tieren lösen. Unwillkürlich lenkt das Blatt die Aufmerksamkeit der Betrachter auf Rolf Eschers Verhältnis zu den Farben, das ständig im Wandel begriffen ist und im vergangen Jahr eine neue Steigerung erfahren hat: 2007 hat Rolf Escher erstmals wieder – nach rund 40-jähriger Unterbrechung – Ölbilder geschaffen und damit zu seinen künstlerischen Wurzeln zurückgefunden. Die Cappenberger Ausstellung und der sie begleitende Katalog eröffnen also ein neues Kapitel.

Die ersten Aquatinta-Radierungen, die Rolf Escher vor rund 40 Jahren schuf, verrieten mit ihrer tonigen und zuweilen farbigen Anlage sowie ihrer flächigen Durchgestaltung die malerischen Ursprünge des Künstlers. Doch als Escher ab 1970 sich mehr und mehr auf die Bleistiftzeichnung konzentrierte, verfestigte sich der Strich, wurden die Blätter grafischer und die Motive gegenständlicher. Allerdings gab er den Bezug zur Farbe nie auf. Mit Bedacht wählte er unterschiedlich (farbig) getönte Papiere aus und gestaltete auf diese Weise Zeichnungen, deren freie Flächen wie grundiert wirkten.

Escher profilierte sich als Zeichner und verlieh auch seinen Drucken einen zeichnerischen Charakter. Gleichwohl wirken im Rückblick, angesichts der jüngsten Ölbilder, Zeichnungen wie Drei Stühle oder Das Urteil aus der Mitte der 70er-Jahre völlig anders. Plötzlich offenbart sich auch in ihnen eine malerische Grundhaltung. Die Zeichnungen erscheinen wie mit dem Bleistift ausgeführte Grisaille-Malereien – da die Schraffuren auf den Böden und Wänden bis ins Letzte durchgestaltete Kompositionen entstehen ließen. Die meisterhafte Kunst Eschers, seine Bilder zu akzentuieren und ihnen einen Rest von Skizzenhaftigkeit zu belasten, sollte sich erst danach so dominierend ausbilden.

Anfang der 80er-Jahre gewann der Künstler ein neues Verhältnis zur Farbe. Erst setzte er zuweilend verstärkend die Farbstifte ein, dann ergänzte er immer häufiger die Zeichnungen durch Aquarell-Farben, die mal eine eigene, zum Zentralmotiv gegenläufige Ebene schufen und sich mal ganz in der Dienst der Komposition und ihrer Verstärkung stellten. Es war zu spüren, dass Eschers Lust an der Farbe und an der malerischen Umsetzung wuchs. Die Collage mit Tuschfeder „Im Bücherwald“, Erinnerung an die Schildbachsche Holzbibliothek in Kassel ist ein beredtes Beispiel dafür. In diesem Bild sieht man schon den Maler am Werke, der die zeichnerischen Fesseln abwirft.

Die Kenntnis der neuen Arbeiten lässt manches aus dem früheren Werk in neuem Licht erscheinen. So aquarellierte Escher die Bleistiftzeichnung Koffer mit Zeitung 1977 derart intensiv, dass er damit indirekt das jüngst entstandene Koffer-Ölbild vorbereitete. Die Kompositionsprinzipien sind komplett in das Ölbild übernommen worden. Auch wenn der zeichnerische Charakter in der Arbeit Alte Chorbücher (Essen-Werden) noch stark hervortritt gilt Ähnliches für dieses Farbkreiden-Blatt mit Bleistift von 2002. Heute sieht man die Zeichnung wie eine ausgeführte Vorstudie zu dem Ölbild Alte liturgische Bücher an.

Eine Zäsur? Wir wissen es nicht, vor allem auch deshalb nicht, weil Rolf Escher sich immer noch als den zeichnenden Künstler sieht, der wahrscheinlich selbst nicht ahnt, wie er sich durch den neuen Umgang mit der Ölfarbe verändern mag. Klar ist nur, dass das spannungsreiche Wechselspiel zwischen offener Zeichnung und in sich geschlossener, von der Farbe dominierter Komposition um ein weiteres Kapitel bereichert wird.

Oktober 2008

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