Kunst als Obsession

Jan Hoet verabschiedet sich im MARTa Herford mit „Loss of Control“

Zur wahren Kunst gehört die Besessenheit. Der französische Maler Jean Dubuffet hatte 1945 mit der Begründung der Art Brut den Versuch unternommen, zum Kern der rohen, akademisch unverfälschten Kunst vorzudringen, indem er die Malerei psychisch Kranker mit den naiven Bestrebungen „hoher Kunst“ gleichsetzte.

Harald Szeemann knüpfte mit den Bildwelten der documenta 5 an die Leistungen der Art Brut an, indem er die Kunst der Avantgarde mit der Kunst der psychisch Kranken konfrontierte. In seinem „Museum der Obsessionen“, in „Junggesellenmaschinen“ und im „Hang zum Gesamtkunstwerk“ setzte Szeemann seine Bemühungen fort, die künstlerische Welt aufzubrechen und andere Formen der Besessenheit einzubeziehen.

Jan Hoet bei der Performance von Orimoto Tatsumi Orimoto Marina AmbramovicAuch für Jan Hoet gehört die Auseinandersetzung mit den Außenseitern der Kunst, mit den Obsessionen selbstbewusster Künstler, psychisch Kranker und außerkünstlerischer Einzelgänger zum zentralen Bereich seines Denkens über und seines Arbeitens mit Kunst. 1989 hatte er mit der Ausstellung „Open mind“ einen faszinierenden Bogen von der Malerei der Geisteskranken bis hin zu den Werken der Avatgarde, in denen wie bei Bruce Nauman das Zwanghafte zum Ausdruck kam.

Jetzt, zu seinem Abschied vom Museum MARTa Herford, spitzt Jan Hoet diese seine subjektive Sichtweise noch einmal in einer persönlichen Ausstellung zu. „Loss of Control“ heißt die Ausstellung. Die Avantgarde, die vor 19 Jahren in Gent den Ton angegegeben hatte, tritt jetzt etwas zurück. Die künstlerische Moderne findet nur da ihren Raum, wo sie ebenfalls die Obsessionen thematisiert – wie etwa die Traumata-Bilder einer Louise Bourgeois. Ins Zentrum rücken die Außenseiter: Bilder von Adolf Wölfli, geschnitzte Stelen von Karl Junker und Fotos von Jean-Martin Charcot, der Frauen in hysterischen Zuständen fotografierte.

Es geht um die Kunst in einer bürgerlichen Welt, um Schönheit, Plüsch und Kitsch, um die Lust am Körper und deren Verdrängung im Zeichen einer Doppelmoral, um erotische Sehnsüchte und Satansvisionen und um die Frau als Gegenstand und Opfer der Kunst. Den Kern der Ausstellung bildet das unglaublich facettenreiche Werk des belgischen Malers und Zeichners Félicien Rops (1833-1889), den Jan Hoet bereits in die Ausstellung „Open mind“ einbezogen hatte.

Landschaft von Rops Genrebild von Rops Pornocrates von Rops Erotische Zeichnung von RopsRops, so legt die Ausstellung nahe, zeichnete und malte alles: Landschaften in der Nähe zum Impressionismus und Naturalismus, symbolistische Szenen, Porträts, Kostüme und antiklerikale Motive. Er war zu seiner Zeit durchaus anerkannt, wurde als Illustrator sehr gesucht, und hätte sich wohl auch international durchsetzen können, wenn nicht seine erotischen und pornografischen Zeichnungen mit einem Bann belegt worden wären. Jan Hoet gibt Einblick in die Fülle von Rops‘ Bilderwelt. Es handelt sich um eine Ausstellung in der Ausstellung, wobei die erotichen Bilder eine besondere Anziehung ausüben, weil sie hinter roten Püsch-Vorhängen zu entdecken sind. Provokativ und heiter ist bis heute die Bilderserie der Pornokrates, einernackten Frau, die an der Leine ein Schwein spazieren führt.

Jacques Charlier kommentiert Rops Zeichnung von Louise Bourgeois Arbeiten von Karl JunkerDas Werk von Rops offenbart, welche Tiefen und Untiefen sich in einem grandiosen Werk auftun können. Die Brisanz seiner Bilder im späten 19. Jahrhundert können wir heute kaum noch erahnen. Der zeitgenössische Künstler Jacques Charlier darf mit seinen Arbeiten die Werke von Rops kommentieren. Charlier, der mit unterschiedlichsten Mitteln (Malerei, Fotografie, Installation) arbeitet, bringt manches auf den Punkt, bleibt aber im Vergleich zu rops plakativ.

Die Ausstellung fordert heraus. Sie zeigt, wie über alle Zeiten hinweg der Körper, die Sinne, das Begehren und der Schrecken Künstler und andere Außenseiter in ihren Bann schlagen und zu beklemmenden wie verführerischen Visionen führen. Sie trägt nicht nur die ganz persönliche Handschrift von Jan Hoet, sondern steht auch für einen immer wieder faszinierenden Bereich der Kunst.

Dadurch, dass die Ausstellung vom 21. bis 23. November mit einem großen Abschiedsfest für Jan Hoet verbunden wurde, ergab sich für ihn die Möglichkeit, durch Video-Vorführungen und Performances auch einige seiner früheren und heutigen Künstlerfreunde noch einmal in Erinnerung zu bringen: Joseph Beuys, Marina Ambramovic und Tatsumi Orimoto. Von Joseph Beuys waren die Videos seiner zentralen Performance-Projekte zu sehen. Marina Abramovic setzte sich in ihrer Performance mit der politischen Vergangenheit und der Revolutionssehnsucht auseinander, indem sie sich auf ein Podest stellte und wie eine Statue eine überlange rote Fahne hoch hielt, die von Ventilatoren in Bewegung gehalten wurde. Und Orimoto umwickelte die Köpfe seiner Performance-Akteure mit Stangenweißbroten, um sie dann, mit einem Glöckchen in der Hand, durch die Ausstellung zu führen. Es war eine Hommage an das Brot des Lebens, aber auch eine Manifestation der Tatsache, dass der Hunger nach Brot die Augen für die Kunst verschließt.

Die Ausstellung läuft noch bis 25. Januar

www.marta-herford.de

24. 11. 2008

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