Aktuelle Kunst zeigen

Veit Loers leitet das Fridericianum als Kunsthalle

Der Kunshistoriker Veit Loers (44), Leiter der Städtischen Galerie in Regensburg, soll ab 1988 als erster das Museum Fridericianum in Kassel als Kunsthalle führen. Für ihn entschied sich gestern mit „knapper, aber eindeutiger Mehrheit der Aufsichtsrat der documenta, in dem die Stadt Kassel und das Land Hessen als Träger der Kunsthalle vertreten sind. Damit unterlag in dem bis zuletzt offenen Rennen der Kasseler Kandidat Volker Rattemeyer, der im Vorfeld des Bewerbungsverfahren als Favorit gegolten hatte. Kassels Oberbürgermeister Eichel: „Beiden hätten wir sehr gut die Ausstellungsleitung übertragen können.“ Insgesamt hatten sich 28 Interessenten beworben.
Der aus Schaidtf/Rheinpfalz stammende Veit Loers schloß sein Kunstgeschichtsstudium mit einer Promotion über die Rokokoplastik ab. Über die Bayerische Landesdenkmalpf lege kam er 1973 an das Museum in Regensburg, an dem er sich mit kulturgeschichtlichen Problemen beschäftigte. 1980 wurde ihm die Leitung der neugegründeten Städtischen Galerie übertragen, in der er ein Programm zur Gegenwartskunst aufbauen sollte, obwohl er, nach eigenem Bekunden, damals „kaum Kenntnisse der aktuellen Kunstszene besaߓ.
Für seine Bewerbung in Kassel konnte er nun eine stattliche Liste selbst konzipierter Ausstellungen vorlegen: Otto Dix und der Krieg; Junge Schweizer Kunst, Junge deutsche Kunst; Umgang mit der Aura und Gruppe Spur. Der aktuellen Kunstszene will Loers auch in der Kunsthalle Kassel den Vorrang geben. In einer Pressekonferenz unmittelbar nach seiner Berufung erklärte er, das Ausstellungsprogramm solle einen Zusammenhang zwischen den documenten herstellen und dabei eine eigene Linie finden. So sei es für ihn selbstverständlich, daß er vor dem Start im Jahre 1988 in organisatorischer wie auch inhaltlicher Hinsicht mit dem Leiter der documenta 8 (1987), Manfred Schneckenburger, spreche.
Auf die Frage, ob Loers aufgrund seiner breiten kunsthistorischen Vorbildung auch an kulturgeschichtliche Ausstellungsprojekte denke, antwortete er mit einem klaren Nein: In der Kunsthalle Kassel werde es um Gegenwartskunst gehen. Auch müsse man den Mut haben, neue Ausstellungsformen zu erproben. Wesentlich sei es, mit dem Programm über die Stadt hinauszuwirken. „Der Rest der Bundesrepublik, meinte er mit einem leichten ironischen Unterton, „soll auf Kassel schauen.“
Loers will die Zusammenarbeit mit den anderen Kunstinstitutionen in der Stadt suchen. Wie Ulrich Schmidt, der Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen in Kassel, ergänzte, werden Abteilungsausstellungen der Kunstsammlungen im Fridericianum nur insoweit stattfinden, als sie thematisiert werden können und in das Gesamtkonzept der Kunsthalle passen. Das Fridericianum solle kein „Gemischtwarenladen“ werden.
Nach Darstellung von Oberbürgermeister Eichel ist den Verantwortlichen bewußt, daß die ersten vier Jahre die Kunsthalle prägen werden. Deshalb sei die entscheidende Frage: Wie kriegen wir ein eigenständiges Profil? Da die Qualität immer Vorrang haben müsse, brauche nicht immer das ganze Fridericianum gefüllt zu sein.
Der Vertrag von Loers beginnt am 1. Januar 1987 und läuft über fünf Jahre. Im Moment ist noch nicht sicher, ob Loers, der in Regensburg in Beamtenstellung ist, genau zu diesem Zeitpunkt wechseln kann. Ihren Ausstellungsbetrieb soll die Kunsthalle Fridericianum im ersten Halbjahr 1988 aufnehmen. Die Stadt Kassel und das Land Hessen stellen dafür einen jährlichen Ausstellungsetat in Höhe von 1,1 Millionen DM bereit.

Kommentar

Start am Punkt Null

Die Entscheidung fiel nicht leicht. Das spricht dafür, daß für die geplante Kunsthalle Kassel qualifizierte Kandidaten bereitstanden. Den Ausschlag aber gab am Ende wohl das Votum des documenta-Leiters Schneckenburger. Er hatte sich für den Mann aus Regensburg starkgemacht, weil der einem Ort ohne Kunst-Adresse zu einem Profil verholfen hat.
Was Veit Loers dort geleistet hat, kann sich sehen lassen. Und doch darf nicht vergessen werden, daß das von bescheidenem Kunstvereins-Format bleiben mußte. In Kassel wird er in anderen Dimensionen planen müssen. Das wird nicht leichter dadurch, daß sein Beginn zugleich der Start der Kunsthalle am Punkt Null ist.

Insofern ist nicht nur für Loers, sondern auch für den Aufsichtsrat zu hoffen, daß die richtige Wahl getroffen wurde. Denn das ist klar: Wenn in den ersten Jahren für das Fridericianum kein Profil gefunden wird, dann wird das ganze Experiment gefährdet. Andererseits birgt diese offene Situation gerade für den ersten Mann eine große Chance – er kann Maßstäbe setzen.
Bei der gestrigen Wahl ging es nicht nur um zwei verschiedene Personen und Konzepte. Unausgesprochen stand auch die Frage zur Diskussion, ob die Ausstellungen (junge Kunst, Stipendiaten u.a.), durch deren Heranholen erst das Ja zur Kunsthalle greifbar wurde, für Kassel weiter ein Standbein bilden könnten. Immerhin ist vieles an die Person Rattemeyer gebunden. Ihn und damit seine Projekte weiterhin für Kassel zu sichern, dürfte eine ebenso wichtige Aufgabe sein wie die getroffene Entscheidung.

HNA 4. 10. 1986

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