Noch immer fällt es schwer, sich vorzustellen, daß Kassel künftig auch zwischen den documenten ein gewichtiger Ausstellungsplatz sein soll. Doch die Weichen sind gestellt. Und wenn am morgigen Freitag die Entscheidung über den ersten künstlerischen Leiter der Kunsthalle Museum Fridericianum gefallen ist, wird man auch wissen, in welche Richtung der Weg führen wird.
Was aber ist zu erwarten und an welchen Maßstäben sind die drei Bewerber Bischof (Kiel), Loers (Regensburg) und Rattemeyer (Kassel) zu bemessen? Sicher ist eins: Wenn das Land Hessen und die Stadt Kassel praktisch aus dem Nichts einen jährlichen Ausstellungsetat in Höhe von 1,1 Millionen Mark ermöglichen, dann muß die Kunsthalle erst einmal auch denen etwas bieten, deren Steuergelder eingesetzt werden.
Das heißt: Es kann nicht die Aufgabe einer Kasseler Kunsthalle sein, genau das zu servieren, was auch die Ausstellungshäuser zwischen Zürich und Hamburg bieten. Wie im Fall documenta muß für die Kunst- halle ein eigenes Profil entwickelt werden. Bei der Ausformung des Profils werden nicht nur die Ideen und Visionen eines Ausstellungsmachers die entscheidende Rolle spielen, sondern auch dessen Beziehungen zu anderen Institutionen. Nur so werden attraktive Ausstellungen übernommen oder kostbare Leihgaben angefordert werden können.
Ob nun eine Kunsthalle Kassel den Dialog mit dem Osten sucht, ob sie die junge Künstlergeneration fördert oder die konstruktivistische Tradition neu belebt – sie wird sich arg ins Zeug legen müssen, um den Ansprüchen gerecht zu werden. Wenn man sieht, daß das nicht sensationalle Frankfurter Projekt Prospekt 86 allein 850 000 Mark Sondermittel verschlungen hat, dann ist ein Jahresetat in Höhe von 1,1 Millionen Mark für das große Fridericianum eher bescheiden zu nennen. Ohne weitere Fremdmittel wird nicht viel laufen.
Vor allem aber dürfen die (kunst)touristischen Erwartungen nicht zu hoch geschraubt werden: Sollte es der Kunsthalle gelingen, jedes Jahr mit einer Ausstellung aufzuwarten, die über die Grenzen der Region hinaus Beachtung findet, dann ist schon. eine Menge erreicht. Die .documenta besetzte 1955 Niemandsland, die Kunsthalle Fridericianum aber trifft auf ein großes Feld von Mitbewerbern.
HNA 2. 10. 1986