„Kulturpolitische Großtat“

Museum Fridericianum als Kunsthalle

Kassel soll ab 1988 auch zwischen den documenten ein national und international attraktiver Ort für Kunstausstellungen werden: Mit einem jährlichen Gesamtetat von 2,1 Millionen Mark wollen künftig das Land Hessen und die Stadt das Museum Fridericianum in Kassel als Kunsthalle betreiben. Die reinen Ausstellungskosten in Höhe von rund 1,1 Millionen Mark wollen sich Land und Stadt teilen; darüberhinaus stellt das Land eine Million Mark für die Bauunterhaltung, die Bewirtschaftung und die Ausstellungsleitung bereit. Die Mittel für das 1779 eröffnete Gebäude mit seinen rund 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche werden erstmals im kommenden Jahr zur Verfügung gestellt, um so den Vorlauf zu ermöglichen.
Hessens Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Vera Rüdiger, und Kassels Oberbürgermeister Hans Eichel würdigten gestern in einer Pressekonferenz dieses Konzept als eine „kulturpolitische Großtat“. Das Land, so die Ministerin, gebe damit für Nordhessen einen Impuls, der weit über die Grenzen ausstrahle. Das Fridericianum werde damit auch außerhalb der documenten in die Konkurrenz zu den großen europäischen Ausstellungshäusern gestellt.
Eichel ergänzte: „Kassel will Standort der modernen Kunst sein.“ Allerdings wolle man mit dem geplanten Ausstellungsbetrieb der documenta als der großen internationalen Kunstschau keine Konkurrenz machen. Die Zeit zwischen den beiden documenten 8 und 9 soll als Erprobungsphase für den Kunsthallenbetrieb gelten. Ein konkretes inhaltliches Konzept muß der (die) Ausstellungsleiter(in) erarbeiten, der (die) derzeit per Ausschreibung gesucht wird und möglichst bis zur Sommerpause berufen werden soll. In einem gestern vorgelegten Vorkonzept wurde aber der Rahmen für den Ausstellungsbetrieb sichtbar: Im zweiten Obergeschoß des Fridericianums sollen die Staatlichen Kunstsammlungen Kassel, die selbst keinen nennenswerten Raum für Sonderausstellungen haben, Bestände einzelner Abteilungen im Zwei-JahresWechsel zeigen können. Den Schwerpunkt in den beiden Hauptgeschossen sollen große kunst- und kulturhistorische bzw. thematische Ausstellungen bilden, Werkschauen einzelner Künstler und Künstlergruppen, Förder- und Preisträgerausstellungen sowie Veranstaltungen in Kooperation mit Kunstinstitutionen Osteuropas.
Als Träger für die Kunsthalle soll die documenta GmbH fungieren, die zu diesem Zweck zu einer „documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungsgesellschaft GmbH“ erweitert wird. Stadt und Land entschieden sich für die Verknüpfung, um so den einen funktionierenden Ausstellungsapparat für beide Zwecke nutzen zu können. Uber die Besetzung der Ausstellungsleitung entscheidet entsprechend der documenta-Aufsichtsrat, der um zwei Sitze erweitert werden soll.
An die Ausstellungsorganisation werden von den Trägern hohe Ansprüche gestellt: Es müßten, so betonte Eichel, nicht nur Ausstellungen vorbereitet, herangeholt und aufgebaut, sondern es müßten auch Mittel eingespielt werden. Über die Besetzung der Position soll alle fünf Jahre entschieden werden.

Kommentar

Ein Riesensprung

Vor einigen Jahren noch hätte man sich eine solche Entscheidung nur für die Bankenmetropote Frankfurt vorstellen können. Nun kann aber auch das strukturschwache Kassel zu einem festen Standort für regional und überregional bedeutsame Kunstausstellungen werden. Vergleichbar ist die Dimension dieser Entscheidung nur mit Beschluß der 50er Jahre, die documenta in Kassel heimisch werden zu lassen.
Natürlich dürfen und sollen die geplanten Wechselausstellungen im Museum Fridericianum weder die documenta entwerten noch überflügeln. Das wäre fehlgeleiteter und zum Scheitern verurteilter Ehrgeiz. Auch ist das Wort von der Konkurrenz für europäische Ausstellungshäuser gewiß zu hoch gegriffen. Selbst wenn die eine oder andere Veranstaltung international Aufsehen erregen mag, wird sich auf dieser Ebene nicht der Ausstellungsalltag abspielen. Doch nun wird die Zeit der Flauten zwischen den documenten in Kassel vorbei sein. Das aber kann nur belebende Folgen haben.
Uberzeugend an dem Plan ist, daß das Land und die Stadt dem ersten Kraftakt (Freihalten des Fridericianums für die documenta) mit Konsequenz den zweiten folgen ließen und eine vielversprechende Finanzbasis schufen.
Nichts wäre schlimmer gewesen, als wenn man mit kargen Mitteln in der Hand darauf gewartet hätte, daß sich die Räume schon füllen werden. Es ist zu spüren, daß dem Finanzplan ein ernstzunehmendes Konzept zugrunde liegt.
Erst wenn man bedenkt, daß bislang außerhalb der documerita nur wenige größere Ausstellungen möglich waren, ermißt man, welchen Riesensprung die Stadt vor allem, aber auch das Land zugunsten der Kunst gewagt haben. Zu diesem Mut kann man nur gratulieren.

HNA 16. 5. 1986

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