Vorfahrt für die documenta

Der Nutzungs-Kompromiß für das Kasseler Museum Fridericianum, nach dem das Gebäude in ein Technikmuseum und eine Kunsthalle auf gteilt werden sollte, ist vom Tisch. Bei einem Gespräch unter Federführung des Kultusministeriums haben sich gestern in Kassel das Land Hessen, die Stadt, die Staatlichen Kunstsammlungen und die documenta GmbH darauf geeinigt, das Fridericianum ohne Einschränkungen für die documenta freizuhalten und damit den Fortbestand dieser weltweit anerkannten Ausstellung in Kassel zu sichern. In den Jahren zwischen den documenten, die alle vier oder fünf Jahre stattfinden, soll das klassizistische Gebäude für wechselnde Ausstellungen der Staatlichen Kunstsammlungen, der Gesamthochschule Kassel und der Stadt genutzt werden.

Das Astronomisch-Physikalische Kabinett, das nach dem bisherigen Kompromiß im Fridericianum zum Technikmuseum ausgebaut werden sollte, wird nach der gestrigen Ubereinkunft in der Orangerie eine neue und repräsentative Bleibe finden. Dabei soll möglichst in dem die Orangerie krönenden Apollo- Saal ein Planetarium eingerichtet werden. Im Erdgeschoß des Hauses soll ein Flügel für kleinere Wechsel-Ausstellungen und als Basis dür documentaAktionen im Aue-Bereich freigehalten werden.

Im Landesmuseum können sich dann später -— nach dem Auszug des Astronomisch-Physikalischen Kabinetts — die Abteilungen Vor- und Frühgeschichte, Volkskunde und Kunsthandwerk stärker ausbreiten. Für die Unterbringung des technischen Großgeräts (Flugzeug, Lokomotiven und Lastwagen) werden erst einmal vorübergehende Lösungen gesucht

Kommentar

Es ist geschafft

Was noch vor einem Jahr fast undenkbar schien, wurde gestern erreicht: Der unselige Teilungsplan für das Museum Fridericianum ist wieder in den Schubladen verschwunden. Und er wurde in einer Weise verabschiedet, die eigentlich allen widerstreitenden Interessen gerecht werden müßte.

Entscheidend ist, daß die neue Lösung die Vorrangstellung der documenta für das Kunst- und Kulturleben in Kassel anerkennt: Ohne documenta bleibt die Stadt für das internationale Kunstleben nicht im Gespräch; und ohne documenta fehlt der Neuen Galerie als einem Museum für die Kunst des 20. Jahrhunderts die Basis für die weitere Entwicklung.

Der Sinneswandel in der Kasse1er Museumsplanung, der zahlreiche und hartnäckige Widerstände überwinden mußte, hat viele Väter, Das unermüdliche Werben der Stadt-Spitze war ebenso ausschlaggebend wie der Wechsel in der Leitung der Staatlichen Kunstsammlungen Kassel. Wahrscheinlich aber wäre die Neubesinnung nicht erfolgt, hätte nicht das documenta-Team um Rudi Fuchs drastisch darauf hingewiesen, daß mit dem Irikraftsetzen des Kompromisses der Fortbestand der documenta gefährdet worden wäre.

Und die documenta wär mehrfach bedroht: Einmal weil der museale Innenausbau Raum-Inszenierungen zu erschweren drohte;
dann wäre das Fridericianum seiner Einzigartigkeit beraubt worden, weil auch während der documenten das Technikmuseum an vier Stellen präsent bleiben sollte; und schließlich bestand die Aussicht, daß deswegen für die documenta kein renommierter Ausstellungsmacher mehr zu finden gewesen wäre. Wie intensiv umgedacht wurde, beweist ein anderes Detail: Vor der Entscheidung über den Innenausbau des Fridericianums sollen der vorige und der künftige documenta-Leiter gehört werden.

Den „Durchbruch, wie es der hessische Kultus-Staatssekretär Vilmar formuliert, ermöglichte aber auch ein anderer Tatbestand. Insbesondere dank einiger ungewöhnlicher Initiativen der Gesamthochschule Kassel besteht nämlich nicht länger die Gefahr, daß das Fridericianum zwischen den documenten leer bleibt. Ausstellungsprojekte wie derzeit die Leistungsschau der Villa Massimo-Stipendiaten oder (im Oktober) der deutschen, französischen und britischen Kunststudenten scheinen keine Eintagsfliegen zu bleiben. Andererseits ist zu erwarten, daß auch die Staatlichen Kunstsammlungen in puncto Wechselausstellungen noch mehr Ideen hervor bringen werden.

Aber auch für das Astronomisch- Physikalische Kabinett birgt die Lösung gute Zukunftsperspektiven. Historisch mag die Orangerie nicht der ideale Ort sein, doch die Lage und die Räume sprechen für sich. Vor allem aber wird sich die Sammlung ausweiten können — ohne den Zwang, daß alle vier Jahre wesentliche Teile ins Depot abtransportiert werden müssen. Und endlich ist die Sammlung durch die Ausgliederung des technischen Großgeräts möglicherweise vor einer Fehlentwicklung bewahrt worden.

HNA 3. 9. 1983

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