Ratlos unterm Herkules

Die Not mit den Ausstellungsräumen

Hohe Erwartungen, gegensätzliche Ansprüche und leere Kassen: Die
Ausstellungs- und Museumslandschaft in Kassel steht immer wieder vor demselben Dilemma.
Der vom Herkules gekrönte Bergpark in Kassel-Wilhelmshöhe gehört zu den einzigartigen Landschaftsparks in Europa. Das Schloß, das genau in der Achse zwischen Herkules und Stadtzentrum liegt, kann zwar nicht mit den berühmten Schlössern konkurrieren, wird aber durch seine Einbettung im Bergpark, oberhalb der Stadt, zum Juwel. Aber dieses Juwel glänzt zur Zeit nur schwach. Der Mittelbau steht weitgehend leer. Zwar ist die Antikenabteilung noch geöffnet, doch die drei Etagen der Gemäldegalerie sind halb Lager, halb Baustelle in Vorbereitung – und dies bereits seit zwei Jahren.
Die lähmende Ratlosigkeit ist kaum noch erträglich. Und immer wieder gibt es neue Gründe zur Verzögerung: Kaum hatte die verantwortliche hessische Landesregierung erkannt, daß die seit 1993 versprochene Sanierung des Schlosses bis zum magischen Jahr 2000 vollendet sein müsse, kamen ihr und anderen leise Bedenken gegen die Umbaupläne. Jüngster Vorschlag ist nämlich, die Museumsräume dadurch zu erweitern, daß man das Souterrain als Servicebereich einbezieht und anstelle der Türen unter dem Portikus den Besuchern einen seitlichen Eingang zuweist.
Daß dergleichen nicht abwegig ist, zeigt das Beispiel Paris: Da hat die Glaspyramide ermöglicht, daß die Louvre-Besucher in der Platzmitte in den Untergrund hinabsteigen, um ins Museum zu gelangen. Andererseits sind die Bedenken der „Keller“-Gegner nicht wegzuwischen; und es wäre interessant darüber nachzudenken, ob nicht oben die Eingangssituation neu geordnet und unten weitere Schauräume erschlossen werden können. Doch egal wie: Diese Diskussion muß geführt werden – offen, gezielt und mit Tempo, wenn 1997 wirklich noch Baubeginn sein soll.
Daß überhaupt saniert werden muß, hat nicht nur mit schlechten oder falschen Materialien zu tun, sondern ist auch auf die Kasseler Krankheit zurückzuführen, daß beim Wiederaufbau der historischen Gebäude konkurrierende Interessen die Konzepte verdarben. Als das Schloß Wilhelmshöhe wiederaufgebaut wurde, hatte man nicht nur die Gemälde Alter Meister im Sinn, sondern dachten einige auch an wechselnde Nutzungen – etwa auch für die moderne Kunst. So entstand der Plan, mit variablen Stellwänden zu arbeiten.

Umgekehrt ist das Museum Fridericianum, das nun als documenta-Ort und Kunsthalle dient, weitgehend für museale Bedürfnisse ausgebaut worden. Obwohl sich alte und neue Kunst bedingen und unauflösbar zusammengehören, werden ihre Interessen immer wieder gegeneinander ausgespielt. Das Fridericianum und dessen Nutzer leiden seit 40 Jahren darunter. Die Museumsleute betrachten das Gebäude als ihr Haus, das die zeitgenössische Kunst besetzt hat. Andererseits mißverstehen die Jünger der Moderne kulturhistorische Ausstellungen im Fridericianum leicht als Entgleisungen.

Wenn man es als gegeben ansieht, daß das Fridericianum das documenta-Stamnihaus ist und für diese internationale Schau freigehalten werden muß, dann bietet es sich als eine Kunsthalle an, in der auch der Kunstverein seinen Platz hat. Dazu haben sich die Stadt Kassel und das Land Hessen im Prinzip bekannt. Nur wozu sie sich nicht bekannt haben, das ist, daß ihnen eigentlich das Geld für ein großes Kunsthallen-Programm fehlt. Solches Geld könnte aber gelegentlich der Großsponsor Wintershall geben – allerdings eher für kulturhistorische, rußlandbezogene Projekte.
Ist also die Kunsthalle in Kassel gescheitert? Keineswegs. Im Gegenteil: Die Frankfurter Schirn und das Haus der Kunst in München exerzieren vor, wie man alt und neu vereinen kann. Auch Veit Loers hatte 1988 bei seinem Kasseler Start mit dem „Schlaf der Vernunft“ die Zusammenführung versucht. Und bis zum Herbst hatte das Nebeneinander der Alten Meister und der Moderne funktioniert. Es werden die falschen Fronten aufgemacht.

HNA 30. 11. 1996

Schreibe einen Kommentar