Bilder aus den wilden Jahren

Ausstellung „behind the facts“ in der Kunsthalle Fridericianum

Vor 25 Jahren meldete sich eine neue Malergeneration zu Wort, deren Bilder als „wilde Malerei“ gefeiert und kritisiert wurden. Doch diese Malerei war brav und harmlos im Vergleich zu der Kunst, die ein Jahrzehnt vorher die Gesellschaft und den Markt erschüttert hatte. Nach dem Aufbruch der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte Ende der 60er-Jahre eine zweite Revolution. Dabei ging die Abkehr von der überlieferten Bildsprache einher mit politisch radikalem Denken und zielbewussten Tabu-Verletzungen.

Es gärte und brodelte überall. Eine Keimzelle war die von Friedrich W. Heubach herausgegebene Zeitschrift „interfunktionen“, die zu einem Forum der neuen Kunst wurde. Im Nachhinein erwies es sich als programmatisch, dass auf dem Titelblatt des ersten Heftes Arnold Bode und der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke beim documenta-Rundgang zu sehen waren. Damit wurde die documenta, die sich selbst jung und progressiv fühlte, als konservativ und reaktionär abgestempelt.
Die zwölf Ausgaben von „interfunktionen“ ergeben ein immer noch aufregendes Panorama der Kunst jener Zeit. Gloria Moure erkannte darin eine überzeugende Basis für eine Ausstellung, die den Geist und die Kunst jener Zeit spiegeln könne. Sie wählte 43 internationale Künstler mit Werken aus jenen Jahren aus und schuf damit eine überwältigende Schau.

Das Aufregende an dem Projekt ist, dass es nur dem Charakter nach historisch ist. Die gezeigten Werke sind so radikal, frisch und kraftvoll, als wären sie gerade entstanden. So wird die Ausstellung zu einem der wichtigsten Projekte der Kunsthalle und zu einem Geburtsgeschenk ganz anderer Art an die documenta, die in diesem Jahr 50 wird.

Vor allem wird sichtbar, dass schon damals eine Entwicklung eingeleitet wurde, die heute noch viele Besucher verunsichert: Die Malerei wurde fast völlig zurückgedrängt. Dafür eroberten Fotos und Filme den Kunstraum. Der künstlerische Film (Video) zeichnet sich dadurch aus, dass er das Medium selbst untersuchte: In einer bezwingenden Doppelprojektion sind Filmbilder von einem Pferd an der Longe zu sehen, in denen Malcolm le Grice ein faszinierendes Spiel mit Farben und Positiv-Negativ-Effekten trieb. Bruce Nauman hingegen schuf einen atemberaubenden Raum, in dem die Zuschauer durch ihre Schatten in die vier Projektionen einbezogen werden. Daneben gibt es aber auch einen wunderbar absurden Unterhaltungsfilm über das Bonner Beethovenhaus zu sehen, den der Komponist Maurice Kagel mit Hilfe mehrerer Künstlerkollegen drehte.

Das gemalte Bild und die Skulptur hatten ausgedient. Die Künstler gingen in den Raum und eroberten die Landschaft, wie der Film zu der im Wasser angelegten Spirale zeigt. Die Grenzen wurden nicht nur erreicht, sondern auch niedergerissen. Die Ausstellung hilft, noch einmal Zeugen dieses nachhaltigen Aufbruchs zu werden.

HNA3. 2. 2005

Zum Start: Protest gegen die documenta

Die Ausstellung, die heute in der Kunsthalle Fridericianum eröffnet wird, ist nicht für Kassel gemacht. Gloria Moure hat sie für Barcelona und Porto gestaltet, um den Aufbruch der internationalen Kunst in den Jahren 1968 bis 1975 zu dokumentieren.
Aber Bezugspunkte der Ausstellung sind die Zeitschrift „interfunktionen“, die von 1968 bis 1970 erschien, und die Kasseler documenta von 1968, gegen die sich die erste Ausgabe der Zeitschrift wandte. Insofern hat die Ausstellung ihren für Deutschland idealen Ort gefunden. Sie entpuppt sich als ein unerwartetes Geschenk zum 50. Geburtstag der documenta.

1968 war das Jahr des Aufruhrs. Weltweit demonstrierten die Studenten. In Deutschland bekamen die Unruhen zusätzliche Nahrung durch Bildungsnotstand und Notstandsgesetze. Künstler verließen ihre Ateliers, um Manifeste zu verbreiten und Aktionen zu planen.

Es war auch für die documenta eine schwierige Zeit. Arnold Bode musste sich der Kritik erwehren, die documenta 4 gebe zu sehr dem Zeitgeist nach. Nun kam neue, viel heftigere Kritik von links. Das Konzept sei „unsachlich und autoritär“, hieß es. Eine Gegendocumenta in der Stadthalle wurde angekündigt, und die Eröffnungspressekonferenz wurde durch ein Happening gesprengt. Die documenta sei zum Aufschlecken, wurde gesagt, nachdem die Akteure Honig über Mikrofone und den Rathaustisch gegossen hatten.

Arnold Bode war vorgewarnt. Sein kurz vor der Eröffnung geschriebener Katalogtext wurde zu einer einzigen Rechtfertigung, ohne dass Bode seine Kritiker nannte:
„Zum Establishment gehört auch diese documenta nicht – wie wir meinen…. Natürlich machen wir Fehler, natürlich sind wir ungerecht…. Aber diese Fehler, Ungerechtigkeiten und verpassten Gelegenheiten …. können doch – unserer Meinung nach – auch die Idee der 4. documenta nicht verfälschen oder gar undeutlich machen.“

In diesem Unruhejahr gab in Köln der Student Friedrich Wolfram Heubach in Zusammenarbeit mit dem Künstler Wolf Vostell, der an den documenta-Protesten entscheidend beteiligt war, die erste Ausgabe der Zeitschrift „interfunktionen“ heraus. Auf dem Titel war Bode zu sehen, wie er Bundespräsident Heinrich Lübke durch die documenta führte. „interfunktionen“ wurde zu einem Medium der neuen Avantgarde, der Kunst, die alle vertrauten Formen hinter sich ließ, die die neuen Medien nutzte und die Tabus brach. Gloria Moure hat mit Bezug auf dies Zeitschrift Kunstwerke ausgesucht, die in jenen Jahren entstanden sind. Somit vermittelt die Ausstellung einen lebendigen Einblick in den umwälzenden Aufbruch der Kunst.

HNA 29. 1. 2005

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