„Schlaf der Vernunft“ im Museum Fridericianum
Nun endlich ist es soweit: Der Schlaf des Museums Fridericianum in Kassel zwischen den documenten ist beendet. Jetzt wird der 200 Jahre alte Bau als Kunsthalle betrieben, die der documenta zwar nicht ins Gehege kommen, die aber auch nicht zum Ort der Beliebigkeiten werden soll. Die hier aufgezogene Ausstellungsfolge soll in Hamburg und München aufhorchen lassen und dementsprechend Besucher anlocken.
Veit Loers, der Ausstellungsleiter, nahm diese Vorgaben sehr ernst. Seine erste Ausstellung setzt auf hohem internationalem Niveau ein und zielt darüber hinaus auf einen konstruktiven Fortgang der Diskussion über die Situation der Kunst und das Problem der Postmoderne. Vor allem aber holte er die Klarheit der klassizistischen Architektur in die Räume zurück. Innerhalb der vorgegebenen Achsen ließ er einige Zwischenwände einziehen, so daß feste Raumeinheiten entstanden, ohne daß die Weite der Fluchten verlorenging. Auf einmal merkt man, daß sich mit dem Gebäude sehr wohl arbeiten läßt und daß sich schöne und helle Räume ergeben.
Das Museum Fridericianum ist aus dem Dornröschenschlaf erwacht, das Ausstellungsleben beginnt. Und doch heißt die Eröffnungsschau Schlaf der Vernunft – weinrote Erste-Klasse-Polster mit einer Armlehne in der Mitte scheinen auf den Plakaten geradezu zum Schlaf zu ermuntern. Ist es also nicht weit her mit dem Ausstellungsleben? Müßte das Motto besser lauten: Bitte nicht stören?
Den Titel hat Loers wohl bedacht: Mit seinen verschiedenartigen Anspielungen laßt er die Vielschichtigkeit des gesamten Unternehmens anklingen. Diese Komplexität legen Veit Loers und Markus Brüderlin in ihren Beiträgen zu dem imponierenden Katalog (240 S., 38 DM) offen:
Der Ausstellungstitel knüpft an eine Radierung von Goya ein, in deren Text es heißt Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Schon hierin liegt eine
Doppeldeutigkeit: Der Schlaf (Traum) bringt Schreckensbilder hervor; andererseits gehen auf das Konto der (schlafenden) Vernunft auch ganz reale Schrecken, wie spätestens seit der Französischen Revolution bewußt ist.
Loers bezieht allerdings den Titel auch ganz konkret auf den Ort, an dem die Ausstellung stattfindet: Das Fridericianum ist als der erste öffentliche Museumsbau auf dem Kontinent ein Kind der Aufklärung. Vor 200 Jahren sollten die landgräfliche Sammlungen einer (sehr begrenzten) Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Auf der anderen Seite erwuchs aus der Aufklärung ebenfalls der Drang zum systematischen Ordnen, so daß die Sammelstücke zu wissenschaftlichen Fetischen wurden und ihren Eigenwert verloren. Der Schlaf der Vernunft könnte in diesem Sinne von den Kunstobjekten nur als befreiend empfunden werden.
Der dritte Aspekt, den der Ausstellungstitel berührt, ist vielleicht der wichtigste: Die moderne Kunst ist als ein Kind der Vernunft bis an ihre Grenzen vorgestoßen; jetzt scheint die Moderne erschöpft, sie scheint zu schlafen. Wenn nun Künstler trotzdem die Sprache der Moderne aufgreifen (Abstraktion, Konstruktion) oder sich unbefangen über sie hinwegsetzen, sind sie nicht bloß postmodern, sondern eröffnen möglicherweise neue Wege.
In diesem Sinne begreift sich die Ausstellung als ein Bekenntnis zu einer aktuellen Kunst, die sich in der Verpuppung erneuert. Diese Entwicklung sollte man nicht stören, aber wohl sehr genau beachten. Verschlafen sollte man sie nicht.
HNA 24. 2. 1988