Wilde Farben und spannungsgeladene Räume

Ausstellung „germinations“ im Fridericianum

Genau ein Jahr nach dem Ende der documenta 7 hat sich das Museum Fridericianum wieder der aktuellen Kunst geöffnet. Im Erdgeschoß und im Westflügel des 1. Stockwerkes haben 90 ausgewählte Kunststudenten aus der Bundesrepu1k, aus Frankreich und Großbritannien mit ihren Werken für sieben Wochen die Wände und Räume erobert.

Die Ausstellung „germinations“ (Entwicklungen), die im vorigen Jahr unter ausschließlich deutsch-französischer Beteiligung eine Vorläuferin hatte und die noch in die Partnerländer wandern wird, will natürlich keine kleine documenta sein. Und doch, die großen Bild-Formate und die von der documenta erhaltenen Raumzusammenhänge fordern immer wieder Vergleiche heraus. Die klare, auf Entsprechungen und dann wieder auf spannungsvolle Wechsel bedachte Hängung tut ein übriges dazu. Die Vergleiche allerdings fallen gar nicht so häufig zu Lasten der Nachwuchskünstler aus.

Kazuo Katase, Kasseler Künstler, hat als Ausstellungssignal drei Fahnen entworfen: Es sind die jeweiligen Nationalfahnen, die allerdings brüderlich ihre Farben getauscht haben. Diese Verbrüderung vollziehen Katalog und Ausstellung nach, indem sie einmal die Künstler alphabetisch vorstellen und dann (bei der Hängung) die Werke nach ästhetischen Gesichtspunkten ordnen.

Es ist eine sinnliche Ausstellung entstanden, in der die wilden und vitalen Farben triumphieren und in der es viele spannungsgeladene Räume gibt. Strenge konzeptuelle Beiträge – wie die über die Ausstellung verteilten Thermometer von Michel Verjux – bilden die große Ausnahme. Malerei, und zwar die der heftigen, leidenschaftlichen und erzählerisch ansetzenden Art, beherrscht die Szene. Angesichts dieser Massierung, in der man Vor- und Leitbilder, aber auch neue Ansätze entdecken kann, verwischen sich leicht Unterschiede, zumal für einige die schlechte Malerei zum guten Stil gehört.

Das Verhältnis zur Malerei ist dabei für viele äußerst gebrochen. Ein drastisches Beispiel dafür liefert der Düsseldorfer Carl Emanuel Wolff, der eine sechsteilige Bildwand (240×540 cm) zum klassischen Thema „Frauenraub vorstellt. Die Komposition ist voller Zitate und pflegt in etwas roher Weise die großfigurige Malerei. Doch der Maler fühlt sich ertappt und kann das heile Bild nicht liefern: Die Leinwand ist bisweilen aufgeschnitten oder mit rohen Holzlatten übernagelt; und einer der sechs Bildteile ist gar eine nur bekritzelte Holzplatte geblieben.

Dann wieder gibt es sehr schöne Bilder mit eigenwilligen Ansätzen. Da ist beispielsweise Therese Oulton (London) mit Ölbildern, die eine elementare Gegenständlichkeit zu fassen suchen (Berge, Wasser, Lichteinfall), die aber in einer empfindsam gestimmten, abstrakten Malerei verharren. Oder Nicola Roberts (Manchester), die immer wieder an ein Stilleben-Motiv herangeht, es mit schnellen, heftigen Pinselstrichen einkreist und dabei äußerst harmonische Farbvariationen schafft.

Eine eigenwillige Auseinandersetzung mit der Tradition sucht Stuart MacKenzie (Edinburgh), der in einer dunkeltonigen und lasierenden Malweise ein altarbildhaftes Ölgemälde vorstellt – eine ernste Groteske. Die Malerei ist die Masse – vielleicht üben gerade deshalb die nicht-malerischen Arbeiten die stärkste Faszination aus. Da ist einmal das bei solchen Ausstellungen gern übersehene Feld der Zeichner und Grafiker, hier nur knapp, aber blendend vertreten durch Doris Hadersdorfer (München) mit räumlich gestalteten – Bleistiftzeichnungen, durch Jorma Lécureur (Paris) mit ausschnitthaften Kohlezeichnungen und durch Arne Aullas mit skulpturalen Radierungen.

Den stärksten Eindruck hinterlassen die Installationen. Gleich im Foyer sieht man sich den Kriegs-Schutzräumen und Kampfmaschinen des Frankfurter Künstlers Bruno K., hier sehr ästhetisch vorgeführt, gegenüber. Einen der schönsten Räume schuf Klaus Kampert (Köln). Überlegungen zur bewegten Figur sind hier auf unterschiedlichste Weise ausformuliert. Vollplastische farbige Holzskulpturen stehen Draht-Konturen gegenüber; fliegende, malerisch flache Figuren konkurrieren mit geszeichneten Umrissen. Im Bodenspiegel schließlich entdeckt sich der Betrachter als die lebende Figuren-Komponente.

Von gleicher Eindringlichkeit ist Iain Edwards (Farnham) Raum aus Sand und Ziegeln, in dem ein durch Bambusstangen gestützter Turm drohenden Verfall thematisiert. Einen spielerisch versponnenen Weg beschritt Jean-Luc Prévot, der in Nancy studierte und 1982 starb. Sein märchenhaftes Karussell fesselt durch seine wilde Ausstattung und die gegenläufigen Kreisbewegungen.

Traumatische Erlebnisse und Versuche, Selbsterfahrungen bildnerisch aufzuarbeiten, kennzeichnen die Beiträge von Lorraine Gleave (Falmouth) und Sheila Clayton (Exeter). Wachs und andere weiche Materialien sind dabei zu großartigen Bausteinen individueller Mythologien geworden.

Trotz mancher Schwächen überzeugt die Ausstellung. Und der Gedanke, daß die Vergleichsschau der Kunststudenten
(möglicherweise unter Einbeziehung weiterer europäischer Länder) im Zwei-Jahres-Rhythmus zur Dauer-Einrichtung werden und Kassel dabei feste Station bleiben könnte, setzt Hoffnungen und Erwartungen frei. Es zeigt sich, daß der Gesamthochschule Kassel (und hier besonders Volker Rattemeyer) in Zusammenarbeit mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk ein großartiges Projekt geglückt ist.

Und doch ist die Schau nicht unproblematisch: Die Künstler präsentieren sich und ihre Werke als fertige Produkte, marktgerecht, fast im Stile einer normalen großen Ausstellung, eben wie der documenta. Ausbildungsweg und -stand, Fragen der Potenz und Reifung werden nur im Katalog zur Diskussion gestellt. Der Werkstatt-Charakter fehlt fast vollständig. Das spricht möglicherweise für die Künstler, spricht es aber auch für die Ziele dieses Unternehmens?
Insofern ist die Ausstellung „Vom Flüstern der Neigung zum Grollen des Wahnsinns“ im Obergeschoß der Orangerie, veranstaltet von einer Gruppe aus 23 Kasseler Künstlern und Kunststudenten, ein herausforderndes Gegenstück: Hier gibt es keine fertigen Produkte, keine Autoren-Arbeiten, sondern nur das sympathische Chaos aus spontan und emotional formulierten Bildern auf Zetteln, Papierbahnen und Leinwänden, die die Räume überziehen. Kraftvoll werden Energien freigesetzt, dreidimensional gestaltet oder ausgemalt. Eine Ausstellung, die sich fortdauernd verändert, behauptet und infragestellt.

HNA 30. 9. 1983

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