„300 Jahre Hugenotten in Hessen“ – Ausstellung im Fridericianum
Drei Generationen der hugenottischen Baumeister-Familie du Ry haben im 17. und 18. Jahrhundert Stadt- und Siedlungsplanungen in Nordhessen geprägt. Die strengen Grundrisse von Karlshafen und Mariendorf bezeugen noch heute diese Reißbrettplanungen. Aber auch Bauten wie die Karlskirche und die Ursprünge von Schloß Wilhelmshöhe In Kassel sind Schöpfungen der du Rys. Eines der größten Gebäude, geplant von Simon Louis du Ry, dem jüngsten und wohl wichtigsten Glied der Dynastie, ist das 1779 vollendete, klassizistische Museum Fridericianum in Kassel. In ihm findet eine Ausstellung, die an die Zuwanderung der hugenottischen Flüchtlinge erinnert, ihren idealen Platz.
Die Ausstellung unter dem Titel 300 Jahre Hugenotten in Kassel – Herkunft und Flucht, Aufnahme und Assimilation, Wirkung und Ausstrahlung läßt sich allerdings die Chance entgehen, das hundertjährige Wirken der du Rys systematisch und in seinen vielfältigen Beziehungen sichtbar zu machen. Erst im Katalog stößt man auf eine Darstellung, die die Dimensionen dieses hugenottischen Beitrages umreißt.
Die von Karl-Hermann Wegner (Direktor des Stadtmuseums Kassel) und Ingrid Kräling vorbereitete und eingerichtete Ausstellung bemüht sich um eine anschauliche Gesamtdarstellung des Hugenotten-Schicksals: Die Schau setzt bei der Reformation in Frankreich und den sich daraus entwickelnden Verfolgungen der als Hugenotten bezeichneten französischen Protestanten ein, wendet sich dann den Fürsten zu, die den Glaubensflüchtlingen Zuflucht anboten, dokumentiert danach die Ansiedlung der Hugenotten in Deutschland, um endlich die handwerklichen und wirtschaftlichen Zeugen ihres langfristigen Wirkens auszubreiten.
Die Linie ist klar, wenn auch in ihrer Abfolge nicht immer sofort erschließbar. Vor allem findet man nicht bei jeder Abteilungsüberschrift einen erläuternden Text, der in die spezielle Problematik einführt. So muß man auf den Katalog zurückgreifen, wenn man nach einer Erklärung für die Gründe und Umstände der ländlichen Ansiedlung sucht.
Rund 450 Dokumente, Bilder, Modelle, Produkte und Kunstobjekte wurden zu einer anschaulichen Ausstellung zusammengetragen. Allerdings gelang es nicht in allen Fällen, an die Originale heranzukommen, so daß sich die Ausstellungsmacher häufig mit Reproduktionen behelfen mußten. Trotzdem stößt man auf eine Reihe fesselnder Zeugnisse: Da sieht man einen Versteckspiegel, hinter dem Hugenotten in Frankreich ihre Bibel verbergen konnten, oder eine Laterna Magica mit Bildstreifen, auf denen die Reformatoren und die Hugenotten-Verfolger porträtiert sind.
Zu den großen Attraktionen fürs Auge zählen die nachgebauten Modelle Karlshafens und des Kasseler Friedrichsplatzes, das eigens errichtete Balkenskelett eines Kolonistenhauses (mit historischen Gerätschaften), und die vielen Produkte aus Werkstätten hugenottischer Einwanderer.
Zum zentralen und schönsten Raum wurde jenes Kabinett, in dem die Porträts der Landesherren hängen, die den Hugenotten Zuflucht und Privilegien gewährt haben: Vor einen Großfoto der Kasseler Karlskirche steht ein Abguß der Marmorstatue von Landgraf Karl, eingekreist von den Porträtbildern. An den Außenseiten findet man die historischen Drucke der entsprechenden Freiheitskonzessionen von 1685 und 1686.
Relativ am Schluß des Rundgangs gelangt man zu der Abteilung Religion und Kirchen. Obwohl die Hugenotten Glaubensflüchtlinge waren, ist diese Gewichtung historisch richtig: Wirtschaftliche Gesichtspunkte hatten bei der Anwerbung der Flüchtlinge religiöse Motive überlagert. Daß trotzdem die Ansiedlung wirtschaftliche Probleme aufwarf, war dadurch begründet. daß nicht nur Handwerker und Kaufleute kamen, sondern auch mittellose Gruppen.
Zu den Verdiensten der Ausstellung zählt schließlich ihre Erinnerung an die erste französische Gemeinde in Kassel {1615), die 70 Jahre vor der großen Fluchtwelle begründet worden war. Es gibt viel zu sehen (und zu lesen). An manchen Stellen ist die Hängung derart verdichtet, daß man in die Knie gehen muß, um Bilder und Texte zu erfassen. Hier hätte man ruhig strenger auswählen können, um die Enge zu vermeiden.
Der Katalog (480 S., 46 DM) ist zu einem bleibenden Handbuch geworden, das eine Fülle von Aspekten und Quellen erschließt. Er wendet sich an Besucher, die sich intensiv mit dem Hugenotten-Schicksal beschäftigen wollen. Leider fehlt jedoch für das breite Publikum eine Art Kurzführer.
20. 4. 1985