Rückkehr zu den Quellen

Werke der Brüder Grimm im Fridericianum

Streng genommen war Jacob Grimm ein, wie wir heute sagen, abgebrochener Akademiker. Nachdem sich der fleißige und begabte Schüler schon der Maturitätsprüfung entzogen hatte, beendete er auch das Jura-Studium ohne Examen. Sein um ein 3ahr jüngerr‘Bruder Wilhelm, der zum lebenslangen wissenschaftlichen Partner Jacobs werden sollte, absolvierte zwar pflichtgemäß die Abschlußprüfung, schlug aber ebenfalls nicht Jene vorgezeichnete juristische Laufbahn ein.
Die Mitschuld an dem Sinneswandel der beiden trug deren Marburger Professor Friedrich Karl von Savigny, der ein, wie der Grimm-Forscher Ludwig Denecke beschreibt, sehr offenes und geselliges Haus führte. Hier kamen sie mit jenem aufklärerisch-romantischen Geist in Berührung, der eine neue Epoche begründen sollte, und hier trafen sie vor allem auf Clemens Brentano, der sie für die Literatur, die mittelalterliche Dichtung und für die Volkserzählungen begeisterte..
1807 — die aus Steinau stammenden Brüder Jacob und Wilhelm Grimm waren 22 beziehungsweise 21 Jahre alt — war die Umkehr beschlossen: Sie wandten sich auf vielerlei Gebieten nun den weithin unerschlossenen Quellen der Sprache, der Literatur, aber auch des Rechts und Politik zu, um sie für ihre Gegenwart nutzbar zu
machen und aus ihnen das Material für den Aufbruch in eine neue Welt zu schöpfen.

In seinem sehr anschaulichen Abriß über Leben und Werk der Brüder Grimm (Katalog „200 Jahre Grimm – Dokümente ihres Lebens und Wirkens, 600 S., 49 DM) weist Ludwig Denekke darauf hin, daß die beiden in der Zeit, in der sie zwischen 20 und 30 Jahre alt waren, bereits eine ganze Flut von Büchern veröffentlichten: Sie sammelten die Kinder- und Hausmärchen, sie machten der Öffentlichkeit das Hildebrandslied zugänglich, und sie waren in unterschiedlichen Funktionen tätig, wobei sich ihre Wege aber stets nur für kurze Zeit trennten.

Die ungeheure wissenschaftliche und politische Leistung der beiden wirkt auf Dauer nach. Doch wie läßt sich ein solches Schaffen in einer Ausstellung sichtbar machen? Es war voraussehbar, daß der Versuch, das Werk der Grjmms im Museum Fridericianum in Kassel zu dokumentieren, nicht leicht fallen würde, denn die Ausbreitung der Briefe, Schriften und Bücher allein vermag nicht, die Sprengkraft der Inhalte zu vermitteln. Einerseits erlauben es die Ausstellungsbedingungen kaum, die Dokumente genau zu studieren (selbst wenn man die Schrift entziffern kann), zum anderen haben diese Schriften nur gelegentlich einen bildhaften Eigenwert. Die Faszination, den Quellen zü begegnen, erschöpft sich zudem bald. Glanzpunkt der Schau ist das originalel Hildebrandslied.

So wurde bis zuletzt beim Ausstellungsaufbau darum gerungen, wie viele Schriften man ausbreiten (und wie viele Vitrinen man aufstellen) muß, um das Werk der Brüder Grimm zu belegen und um die Besucher nicht zu überfordern. Für das nicht vorinformierte Publikum wurde ein sehr klares und anschauliches System von Text-Bild-Tafeln installiert, das das Leben und Wirken der Brüder unter den Bedingungen der Zeit würdigt, Großfotos der maßgeblichen Persönlichkeiten und ihrer Wirkungsstätten vermitteln ergänzende und auflockernde Informationen. Die Ecken mit Möbeln aus jener Zeit aber wirken aber eher verloren als konkretisierend, ebenso unvermittelt erscheint der mit Kulissenbildern ausgestattete Durchgang zum zweiten Raum (Bäume mit Schilderhaus bzw. Scheunentor). Das Kabinett mit den Erinnerungsstücken an die Grimms jedoch (Schreibtische, Reisebesteck, Schmuck) verschafft Zeugenschaft und Erlebnisraum.

Man wollte kein Disneyland, doch es hätte nichts geschadet, sich bei der Ausbreitung der zahllosen Dokumente noch mehr zu beschränken und für die nicht wissenschaftlich interessierten Besucher mehr zu tun. Ein Märchenkabinett mit täglicher Vorlesestunde beispielsweise hätte dem Ruf der Grimms nicht geschadet und hätte sie auch nicht in die Ecke der Märchenonkel zurückgedrängt.

Leichter hatten es die Verantwortlichen bei der Ausbreitung des malerischen und zeichnerischen Werkes von Ludwig Emil Grimm: Hier sprechen die Bilder in ihrer Klarheit und Schönheit für sich. Man gerät mit dem Schaffen eines Künstlers in Berührung, der immer Anerkennung erhielt, aber nie die große Öffentlichkeit erreichte. Indem man erkennt, daß er viel zulange unterschätzt wurde, erfährt man die Notwendigkeit dieser Schau. Wie die Ausstellung über, das Werk der beiden großen Brüder ist diese Werkübersicht nicht zeitlich, sondern thematisch gegliedert.

Einzelne Arbeiten und Motive Ludwig Emil Grimms tauchen in der anderen Schau wieder auf. So werden Verknüpfungen sichtbar. Aber gerade weil Ludwig Emil Grimm die Rolle des Illustrators und Begleiters verläßt (auch vorzüglich im Katalog dargestellt: Ludwig Emil Grimm – Maler, Zeichner, Radierer, 344 S., 36 DM), ist die Einbeziehung dieses künstlerischen Werkes für die Gesamtveranstaltung ein Gewinn.

HNA 1 6. 1985

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