Alles in Bewegung

„Italiens Moderne“ im Fridericianum

Es ist immer riskant, in einer Ausstellung die Zielrichtung einer Kunstepoche dadurch sichtbar zu machen, daß man ausgewählte Originale durch eine zeitgenössische, notwendigerweise nachempfundene Inszenierung ergänzt. Das kann leicht ins Auge gehen und den historischen Werken ihre Kraft nehmen.

Im Museum Fridericianum zu Kassel jedoch hat sich dieses Wagnis gelohnt. Die kommentierende Rauminstallation der zehnköpfigen Künstlergruppe „Imitat(o)“ zu der Ausstellung „Italiens Moderne“ leistet genau das, was die Autoren beabsichtigt haben: In diesen explodierenden Farbräumen mit ihren phantastischen Figuren und Kostümen und den rotierenden Objekten wird der Geist jener italienischen Kunstrichtung spürbar, die 1910 unter dem Namen Futurismus aufbrach und
ganz auf die Bewegung und die Zukunft setzte. Angestachelt vom Tempo und Lärm der Städte, sagten sich die Künstler von der Tradition los und glaubten, alles dynamisieren und neu gestalten zu können.

„Wir fühlen wie Maschinen“, verkündet oben an der Wand des Fridericianums ein Schriftzug, während dahinter unermüdlich eine kleine Modelleisenbahn hin- und herfährt. Ebenfalls direkt unter der Decke schwebt auf der gegenüberliegenden Seite die Weltkugel wie eine Seilbahn durch den Raum. Darunter stehen Kästen, in denen man gewagte, architektonische Modelle entdecken kann.

Auch der Versuch, inmitten dieser kraftvollen Nachschöpfung originale Werke (etwa Gemälde und ein Wandteppich von Fortunato Depero) zu präsentieren, darf als gelungen gelten. So pointiert und so anschaulich ist wohl kaum zuvor der Geist des Futurismus beschworen worden. Die Räume der Gruppe „Imitat(o)“ verdichteten sich zu einem bezwingenden historischen Vorwort zur eigentlichen Ausstellung.

Selbst die andere, die politische Seite ist hier nicht ausgespart. In einer Videoinstallation wird darin erinnert, daß der Futurismus von Anbeginn eine starke nationalistische Tendenz hatte: Man sieht Mussolini (Kopf stehend), den italienischen Dichter Filippo Marinetti rezitieren. Marinetti war Autor des ersten futuristischen Manifests und Faschist.

Allerdings ist dies innerhalb der von Veit Loers konzipierten Ausstellung der einzige direkte Hinweis auf die komplexen und widersprüchlichen Beziehungen zwischen Kunst und Politik im Italien zwischen den beiden Weltkriegen. Tatsächlich sind diese Beziehungen auch nicht auf einen Nenner zu bringen. Während in Deutschland der Nationalismus von Grund auf ein Gegner der Moderne war, duldete und nutzte der italienische Faschismus bis in die späten 30er Jahre zahlreiche Elemente der Moderne. Gerade deshalb kann man auch heute noch nicht die Kunst jener Epoche losgelöst von den politischen Bedingungen betrachten.

Die große Leistung der Kasseler Ausstellung besteht darin, daß sie zwei Kunstrichtungen der italienischen Moderne verknüpft, die meist nur isoliert gesehen werden: Die zweite Generation des Futurismus und die Strömungen des Rationalismus und der Abstraktion. Das Bindeglied zwischen beiden Strömungen bilden die Fotografie und Architektur. Konsequenterweise werden die Arbeiten aus diesen beiden Bereichen in der Mittelachse des Fridericianums präsentiert.

Diese große Ausstellung erfüllt erstmals in vollem Umfang die Vorstellungen, mit denen das Museum Fridericianum als Kunsthalle auf den Weg geschickt wurde. Denn in ihr wird ein zentrales Kapitel der Kunstgeschichte exemplarisch an Hand ausgewählter Schlüsselwerke erstmals für Deutschland aufgearbeitet. Allerdings wird auch deutlich, daß der Etat nicht darauf zugeschnitten ist, häufiger solche Projekte zuzulassen.

Auch der kunsthistorisch nicht vorgebildete Besucher wird aus dieser Ausstellung Gewinn ziehen, weil unmittelbar aus den Objekten und Installationen die in das Leben hineinwirkenden Kräfte spürbar werden. Wie der Jugendstil und das Bauhaus wollten die Futuristen nicht bloß eine neue Kunst machen, sondern alles, Malerei und Architektur, Möbel und Werbung, umgestalten. In der Rotunde wird auf zwei Etagen dokumentiert, wie sehr zwei große Unternehmen dazu beitrugen, daß die Formvorstellungen der Moderne auch in den Alltag eindringen konnten.

Auch wenn Loers daran gelegen war, den italienischen Rationalismus mit seinen verhältnismäßig poetischen und spielerischen Bildern stärker in den Vordergrund zu rücken, wird dieser an sich schöne und klar umrissene Teil eher zum Anhängsel der Futurismus-Schau.

HNA 2. 2. 1990

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