Die Faszination des Fortschritts

Für uns, die wir längst den Glauben an den Fortschritt verloren haben, ist heute das Lebensgefühl schwer nachvollziehbar, das in den ersten 15 Jahren unseres Jahrhunderts herrschte. Einerseits waren die politischen, sozialen und kirchlichen Ordnungen noch streng ausgeformt. Andererseits wurden viele Menschen von einer Aufbruchstimmung erfaßt, die sich so radikal gegen die verkrusteten Strukturen richtete, daß sogar eine Lust am Krieg entstand. Alles war in Bewegung, alles schien möglich. Die Bilder gerieten in Aufruhr, in der Dichtung zerbarst die Sprache. Der technische Fortschritt hatte noch
nicht seine Unschuld verloren.
In Kunst und Literatur wurden in jener Zeit Positionen formuliert, deren Radikalität nicht mehr zu übertreffen war. Erst der tödliche Erste Weltkrieg brachte die Ernüchterung, stutzte die Flügel der Maschinengläubigkeit.
Vor diesem Hintergrund muß jene Kunstrichtung gesehen werden, die unter dem Namen Futurismus ab 1910 Italien eroberte. Die Maler, Bildhauer und Literaten waren fasziniert von der Kraft und Gewalt der Bewegung. Alles wollten sie dynamisieren und dabei zugleich die traditionellen Trennlinien zwischen den Künsten sowie Kunst und Leben überwinden. In der Malerei entstanden Bilder, die das leisten wollten, was eigentlich nur dem Film vorbehalten war – nämlich Bewegungsabläufe darzustellen. So verschmolzen viele Bilder zu dem einen.
Die Ausstellung „Italiens Moderne – Futurismus und Rationalismus zwischen den Weltkriegen“ im Kasseler Museum Fridericianum setzt diese Blütezeit des Futurismus als bekannt voraus. Auch noch etwas anderes setzt die von Veit Loers, dem Direktor des Fridericianums, konzipierte Schau voraus – die weit verbreitete Meinung, die italienische Kunst zwischen den beiden Weltkriegen sei mit den gedankenschweren und rückwärtsgewandten Bildern des
metaphysischen Realismus gleichzusetzen.

Insofern wendet sich die Ausstellung in erster Linie an ein kunsthistorisch vorgebildetes Publikum. Gleichwohl enthält sie starke und prägende Elemente, die auch ein ganz spontanes und ursprüngliches Erleben ermöglichen: Zum einen haben die Bilder jener Zeit nichts von ihrer Faszination verloren, denn auch die zweite Futurismus-Welle brachte Werke von außerordentlich dynamischer Wirkung hervor.

Andererseits überzeugt die Verknüpfung von Malerei, Skulptur, Mode, Architektur, Theater und Design als ein Beweis für den umfassenden Gestaltungswillen der Futuristen. Und schließlich sind die Versuche,mit Hilfe junger Künstler Räume zu schaffen, in denen der Geist jener Zeit beschworen wird, wirklich gelungen.

Der Futurismus aber ist nur die eine Seite. Die andere ist der Rationalismus, ein Begriff, der für die abstrakte, streng-konstruktive Kunst steht. Beide italienische Kunstrichtungen haben unmittelbar nichts miteinander zu tun. In ihren Randzonen, so dokumentiert die Ausstellung, gibt es aber Berührungspunkte. Noch wichtiger ist, daß beide zusammen beweisen, wie intensiv sich die italienische Kunst der 20er- und 30er-Jahre am Dialog der internationalen Moderne beteiligte.

Auffällig ist, wie spielerisch, leicht und poetisch die abstrakte und konstruktive Kunst der Italiener wirkt, Dagegen erscheinen die Bilder der deutschen und holländischen, aber auch osteuropäischen Konstruktivisten gedankenschwer.

Obwohl das Italien der 20er- und 30er-Jahre weitgehend das Land der Faschisten war, konnten sich diese Positionen der Moderne im Gegensatz zum nationalsozialistischen Deutschland behaupten. Das hatte einmal damit zu tun, daß die italienischen Faschisten nicht einen so ausgeprägten Kunstwillen hatten und daß zudem der Futurismus sehr starke nationalistische Züge besaß.

Insofern begünstigte in gewisser Weise der Futurismus den italienischen Faschismus. Aber der Rationalismus, der sich
im Schatten der politischen Unkultur entwickeln konnte, profitierte im Grunde von den Zeitumständen. Loers hat Recht, wenn er meint, die einseitigen Vereinnahmungen und Schuldzuweisungen seien nicht länger möglich. Die insgesamt sehr schöne, dichte und in ihrer Totalität faszinierende Ausstellung leidet jedoch darunter, daß sie die Bilder, Skulpturen, Werbeentwürfe und Architekturmodelle als gereinigte Kunstprodukte vorführt. Die politische Verstrickung der Kunst hätte in einem Raum unübersehbar herausgearbeitet werden müssen.

HNA 11. 2. 1990

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