„Dem Herkules zu Füßen“ im Fridericianum
In dem Augenblick, in dem die Idee geboren wurde, das Kasseler Museum Fridericianum zwischen den documenten als Kunsthalle zu nutzen, glaubten viele regionale Künstler, ein neues Zeitalter stünde ihnen bevor. Einmal im Fridericianum ausstellen – war das nicht der Traum, den die meisten von ihnen geträumt hatten? Doch von der heimischen Kunst war erst einmal nicht die Rede, als Kunsthallendirektor Veit Loers sein Programm vorstellte. Umso höher stiegen die Erwartungen, nachdem bekannt geworden war, in diesem Sommer sollten erstmals auch Künstler der Region Raum im Fridericianum erhalten.
Werden diese Erwartungen mit der jetzt eröffneten Ausstellung „Dem Herkules zu Füßen“ erfüllt? Für die meisten Künstler gewiß nicht, weil hier erst gar nicht der Versuch gemacht wurde, einen Querschnitt durch die regionale Kunstszene vorzustellen. Veit Loers und der Kunstkritiker Christoph Blase ging es bei der Auswahl der Künstler nicht um die Dokumentation der Vielfalt, sondern um den zielgerichteten Ausschnitt. Unter diesen Voraussetzungen hätte auch jede andere Auswahl den Widerspruch herausgefordert.
Gefragt war nicht die regionale Besonderheit oder Eigenart, sondern vornehmlich jene Kunst, die sich der ganz großen Geste bedient und am Dialog der nationalen und internationalen Kunst teilnimmt. Insofern hat die Ausstellung mit den Werken der zwölf Künstler, die alle aus der Gesamthochschule Kassel hervorgegangen sind, zuerst Bestätigungscharakter: Auch hier gibt es Künstler, die an dem überregionalen Dialog teilnehmen. Der aktuelle, der modische Trend wird verstärkt.
Ohne Zweifel wirkt die Inszenierung: Wo der Raum reichlich zur Verfügung steht, wo Objekte gereiht, Bilder großzügig gehängt und Skulpturen weitläufig aufgestellt werden können, stellt sich der große Atem ein. Auch der Katalog verhilft zu übermächtiger Bedeutung. Darin stecken Gefahren.
Der spannendste Beitrag zu der Ausstellung ist der konzeptionellste: Reinhard Heinrichsmeyer hat seit 1981 documenta-Künstler aufgefordert, mit je drei Würfeln 15 Wurf zu machen, Die Würfelergebnisse sollten sie Heinrichsmeyer mitteilen, der seinerseits für jede Zahl Farbwerte und Flächengrößen festgelegt hatte. Nach den rückgemeldeten Würfelergebnissen stellte Heinrichsmeyer streng konstruktivistische Bilder her. 102 solcher Bilder sind nun im Fridericianum ausgestellt – darstellend, was der Konstruktivismus auf der Basis des Zufalls vermag.
Einen eigenen Weg beschreitet auch Norbert Zimmermann: Er baut stählerne Stelen und versetzt zwei fast parallel verlaufende Stahl-Platten durch das Hineinpressen eines Trockeneis-Blocks derart in Schwingungen, daß anfangs ein Höllenlärm entsteht. Die statische Skulptur wird zum dynamischen Klangobjekt. Still und geheimnisvoll hingegen die in einer Ecke versammelten 200 aufgebrochenen Gips-Kokons von Susanne Moll, die Rätsel und Leben verheißen, aber auch reines Formenwunder.
Besondere Faszination üben die Objektkästen von Hans Schaefer aus, durch die die Projektionen von Schädelschnitten wandern. Diese analytische Arbeit stehen im direkten Kontrast zu den sinnlich-provokativen Bildern von: Natascha Fiala mit ihren erotischen Symbolen.
Einzelne Installationen (etwa die von Stefan Beck und Stefan Huber) oder malerische Beiträge (Eric George) knüpfen unmittelbar an die Haltungen und Stilmittel anderer Künstler an. Die Ausstellung wirkt stark und lebendig, dokumentiert in vielen Bereichen aber erst den Aufbruch zu einer eigenen Kunst.
HNA 8. 7. 1989