Die Kunstachse Prag-Paris

„Tschechische Moderne“ im Fridericianum

Die Kunst der „Tschechischen Moderne“ stellt das Museum Fridericianum
in einer Ausstellung vor, die zuvor in Wien zu sehen gewesen war.

Von dem französischen Wort „cube“ (Würfel) ist der Begriff Kubismus abgeleitet, der zu Beginn unseres Jahrhunderts die Sprache der Kunst, insbesondere von Malerei und Skulptur, revolutionierte. In den Bildern wurden nun Raum und Figur in Flächen und geometrische Formen (Kuben) aufgespalten. Zugleich wurden die Farben reduziert und gewannen die Braun- und Ockertöne die Oberhand. Pablo Picasso und Georges Braque, die sich 1907 kennenlernten, gelten als die beiden großen Väter des Kubismus.

Der Aufbruch der Moderne zur Jahrhundertwende war auf vielen Feldern vorbereitet worden. Der Kubismus war auch nur eine Form des Neubeginns. Doch kaum eine andere stilistische Neuerung fand unter den europäischen Künstlern eine derart schnelle Verbreitung, wie das beim Kubismus der Fall war. Vor allem zahlreiche tschechische Künstler wurden zu Motoren der Bewegung, weil es zu jener Zeit eine hervorragend funktionierende Kunst- achse zwischen Prag und dem damaligen Weltkunstzentrum Paris gab: Etliche tschechische Künstler reisten in die französische Hauptstadt und arbeiteten dort zweitweise, außerdem gab es in Prag bereits 1911 eine bedeutende Sammlung kubistischer Kunst.

Die Ausstellung „Vergangene Zukunft – Tschechische Moderne 1890 – 1918“ im Kasseler Museum Fridericianum vereinigt in zwei Sälen Werke von einem halben Dutzend Künst1er, die in der Zeit von 1910 bis 1916 wesentliche Beiträge zur Entwicklung der kubistischen Idee beigetragen haben. Dabei treten die kleinen Bronzeskulpturen von Otto Gutfreund, in denen die Körperformen aufgespalten werden, gleichrangig neben die Gemälde und Zeichnungen von Emil Filla und Antonin Procházka.

Den großartigen Auftakt zu dieser Abteilung bildet Bohumil Kubistas blaurotes halbfiguriges Porträt „Der Raucher – Selbstbildnis“ von 1910. Der Körper ist zur verschobenen Fläche geworden, und der Kopf zergliedert sich in Einzelformen.

Dieses Gemälde ist in doppelter Hinsicht ein Schlüsselbild. Formal wird es zur Brücke zwischen der expressionistischen und kubistischen Malerei, und inhaltlich dokumentiert es die Ratlosigkeit und Unsicherheit einer Generation, die sich von den Fesseln der Tradition befreit hat. Die drei Jahre zuvor entstandenen porträtähnlichen Figurenbilder von Emil Filla (,‚Der Leser Dostojewskis“) und Frantisek Kupka verkünden ebenfalls das skeptische Lebensgefühl. Die grellen Farben verstärken dabei noch die bittere Botschaft. Es ist, als sei die Lust am Modisch-Morbiden die im Symbolismus und Jugendstil (als vorausgehender und auch zeitgleichen Stilformen) vorherrschte, endgültig zerbrochen.

Die aus der Zusammenarbeit zwischen Wien und Prag entwickelte Ausstellung gewinnt dadurch, daß sie sich nicht nur auf das konzentriert, was wir heute im engeren Sinn als Moderne begreifen. Gleichgewichtig sind Werke jener Stile einbezogen, die wir als Ab- und Nebenwege verstehen. So vervollständigt sich das vermittelte Bild zum Panorama einer Epoche, in der höchst gegenläufige Richtungen wirksam waren. Naturalistische und impressionistische Elemente fließen jn den Landschaftskompositionen zusammen, Frantisek Bilek verschmilzt Naturmythen mit Erlösungsvisionen, und bei Frantisek Dvorak werden aus esoterischen Studien Fingerübungen für abstrakte Malerei.

Gerade an der zentralen Figur der tschechischen Modern (und damit auch dieser Ausstellung), an Frantiek Kupka, wirrd offenbar, wie eng alles miteinander verwoben war. Von Kupkas wunderbaren, fast freien Farbschichtungen führt eine direkte Linie zu den esoterischen Bildern des Symbolismus. Andererseits fand er mit seine Malerei eine Synthese impressionistischer und expressionistischer Ausdrucksmittel. Und schließlich steht sein streng konstruktives und abstraktes Gemälde von 1912/13 als ein einsames, pionierhaftes Monument da.

HNA 9. 12. 1993

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