Carlos Santos im Fridericianum
Poesie und Provokation
Innerhalb der dreiteiligen Ausstellung Schon wieder abseits im Kasseler Museum Fridericianum wird der Musiker, Fotograf und Aktionskünstler Carlos Santos vorgestellt.
Einige Bilder tun richtig weh. Es schmerzt, wenn man wahrgenommen hat, daß sich Nägel in die Augen eines Mannes bohren oder daß aus einem Frauenmund eine Hand mit Nägeln herauskommt, während der ganze Kopf in Nägel eingebettet ist. Zugleich haftet diesen inszenierten Fotos und Bildmontagen von Carlos Santos etwas Absurdes an, denn die Dramatik ist derart überspitzt, daß sich der Schmerz auch wieder in Heiterkeit auflösen kann. Das gilt vor allem dann, wenn man bemerkt hat, daß diese Bilder, die provozieren wollen, indem sie Gewalt, Eros und Blasphemie miteinander verbinden, vor leere Notenblätter gesetzt sind: Die elementaren Kräfte der Musik wurden derart verdichtet und umgedeutet, daß die Notation zum surrealen Bild wird.
Vielleicht ist die Deutung etwas überzogen. Doch in dieser Wandlung spiegelt sich auch die biographische Entwicklung von Santos: Er begann als Pianist und Komponist. Ganz allmählich emanzipierte er sich, erweiterte die musikalische Darbietung zur Aktion und verwandelte die Klänge in Bilder. Entscheidend wurde für ihn die Begegnung mit dem Sprach-Bild-Poeten Joan Brossa, dessen Arbeiten parallel im Fridericianum vorgestellt werden. Brossas Fähigkeit, komplexe Gedanken auf pointierte Bilder zu verkürzen, wirkte ansteckend auf Santos. Er bereicherte fortan die Kunst um ebenso radikale Bildformulierungen.
Santos repräsentiert innerhalb der Ausstellungs-Trilogie das Verhältnis von Musik und Kunst. Doch sein Werk steht für mehr. Sichtbar wird das anhand der Fotoserie B-A-C-H: Sie besteht aus einer Reihe von Bildern, auf denen jeweils eine Bach-Büste im befremdlichen Umfeld zu sehen ist. Es ist, als würde der legendäre Komponist endlich einmal mit der Wirklichkeit konfrontiert. Das bedeutet: Je länger man sich auf die Arbeiten von Santos einläßt, desto stärker wird deren Zauber.
HNA 6. 8. 1998