Das Jahr der Ausnahmen

Kassel freut sich auf den Sommer. Nicht nur deshalb, weil diejenigen, die vom richtigen Winter träumen, ihn leid sind, sobald er mehr als zwei Wochen dauert. Nein, der Sommer 1997 verspricht attraktiv zu werden, weil er ein documenta-Sommer sein wird. Die Stadt, so weiß man, wird dann zum Erlebnisraum. Es ist, als würden die sonst geltenden Bedingungen außer Kraft gesetzt: Die Wege quer über den Friedrichsplatz verlieren an Bedeutung, die Randzonen des Platzes werden zur Freßmeile und auf einmal kümmern sich Menschen um die Belange der Kunst, die nicht ahnen, daß es auch zu anderen Zeiten wichtige Kunstausstellungen für sie gibt.
Das Jahr der documenta ist eines der Ausnahmen, denn der Name der Ausstellung wirkt wie ein Zauberwort, das selbst die verschlossensten Türen und Geldquellen öffnet. Höchstwahrscheinlich hat die documenta in Kassel nur deshalb überlebt, weil sie das einzigartige Ereignis blieb.

In ihrem Gespräch mit unserer Redaktion hatte documenta-Leiterin Catherine David gemeint, die Stadt müsse endlich davon wegkommen, diese Weltausstellung der Kunst als etwas Exotisches zu begreifen. Aus der Sicht der Ausstellungsmacherin, die viele Schwierigkeiten zu überwinden hat, mag die Forderung berechtigt sein. Doch solange sich Kassels wirtschaftliche und kulturelle Bedingungen nicht grundsätzlich ändern, kann die documenta nichts Selbstverständliches werden. Nur als die Ausnahme wirkt sie für die Menschen außerhalb der Kunstszene beflügelnd und identitätsstiftend.

Gleichwohl wäre bisweilen mehr Offenheit und Gelassenheit von Vorteil – beispielsweise im Umgang mit den Ausstellungsorten. So richtig und zwingend es ist, daß bei der Gestaltung und Ausfüllung der documenta-Orte hohe und höchste Ansprüche erfüllt werden (selbst dann, wenn sie unpopulär sind), so falsch wäre es, den Kunsthallenbetrieb im Museum Fridericianum als eine Fortsetzung der documenta mit anderen Mitteln anzusehen. Dies gilt um so mehr, als weder Stadt noch Land das Geld für ein intensives Spitzenprogramm haben.

Im Grunde weist der im Dezember gefundene Kompromiß den richtigen Weg: Es muß schnell jemand gefunden werden, der für das Fridericianum einen Ausstellungsplan erarbeitet, der Anspruchsvolles ermöglicht und das Haus auch zwischen den documenten zum Anziehungspunkt macht. Er (oder sie) muß aber auch wissen, daß der Etat Grenzen setzt und das Haus gelegentlich offen stehen muß für Gastausstellungen, die andere finanzieren und verantworten. Gerade Klimawechsel und Kontroversen können außerhalb der documenta das Fridericianum beleben. Die jetzt laufende Jugendstil-Ausstellung liefert den Beweis dafür.

HNA 11. 1. 1997

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