Eine festliche Ausstellung im Kasseler Museum Fridericianum: Gezeigt werden ab heute Bilder und Objekte des Münchner Jugendstils als Dokumente einer Umbruchzeit.
Ein überraschendes Glanzlicht im Museum Fridericianum zu Kassel am Ende der Ausstellungssaison, bevor dann im nächsten Frühjahr die documenta-Vorbereitungen anlaufen: In die (für die 120 Meisterwerke) noch im lichten Grau gestrichenen Räume sind begehrte Schätze eingezogen – Gemälde von Franz von Stuck und Wassily Kandinsky, Möbel und Gebrauchsobjekte von Richard Riemerschmid und Bruno Paul sowie Grafiken und Zeichnungen von Thomas Theodor Heine und Paul Klee. Zur Einstimmung auf die Münchner Jugendstilwerke wurden Dekors mit Hilfe von Schablonen oben auf die Wände aufgetragen, die auf die farbigen Tafeln abgestimmt sind, auf denen die Besucher erläuternde Hinweise finden.
Die Ausstellung ist einerseits von langer Hand vorbereitet, andererseits ein kurzfristiges Zufallsprodukt: Eigentlich war für Kassel eine russische Jugendstilausstellung geplant, die die Firma Wintershall, die im Gasgeschäft mit Rußland engagiert ist, finanzieren wollte. Doch bei der Umsetzung ergaben sich auf der Seite der Leihgeber solche Schwierigkeiten, daß umgeplant werden mußte. Hans Ottomeyer, der Direktor der Staatlichen Museen Kassel, der vor einem Jahr vom Münchner Stadtmuseum gekommen ist, bot sich als Retter des Projektes an. Schließlich gehört er zu den Jugendstil- Experten und hatte noch in München an einer Jugendstil- Schau mitgearbeitet, die diesen Sommer in Verona gezeigt worden war. Er versprach, diese Ausstellung in veränderter Form nach Kassel zu holen und sie auch durch Leihgaben aus der Tretjakow-Galerie in Moskau zu ergänzen.
Das Moskauer Museum hat für einen hervorragenden Schwerpunkt gesorgt – für acht Bilder von Wassily Kandinsky. Nun weiß man zwar, daß Kandinsky seine künstlerisch entscheidenden Jahre in München verbrachte, doch würde man ihn kaum mit dem Jugendstil in Verbindung bringen. Doch Kandinsky hatte mit Künstlern des Jugendstils einen lebhaften Austausch; schließlich war er auch Schüler von Franz von Stuck. Ottomeyer wertet also den Jugendstil weiter auf, indem er ihn in seiner Vielgestaltigkeit sichtbar werden läßt und indem er zu verdeutlichen sucht, daß die Bestrebungen dieser Stilepoche Grundlagen schufen für eine Moderne, die dann im Bauhaus zu sich selbst fand.
Insofern versammelt die Ausstellung nicht bloß rund 300 bemerkenswerte und schöne Objekte aus der Zeit von 1896 bis 1914, sondern lädt auch zur Neubewertung ein. Der Jugendstil ist oftmals als das Produkt einer Endzeitstimmung – mit einer Neigung zur Dekadenz – eingestuft worden. Diese Schau bricht das beengte Schubladendenken auf und läßt erkennen, daß der Jugendstil wie die maßgeblichen Zeitschriften jener Epoche – Simplicissimus und Jugend – nicht nur rückwärts gerichtet war, sondern viele Elemente des Aufbruchs und der Neubesinnung enthielt. Der Weg von Franz von Stucks verspielt und verführerisch wirkenden Bildern zu Paul Klees surrealen Grafiken ist gar nicht so weit.
Die künstlerischen Eckpunkte der Ausstellung bilden die Räume mit den Werken von Stuck und Kandinsky. Die in klare Kapitel gegliederte Schau lebt aber davon, daß die Rangfolge zwischen freiem Kunstwerk und Gebrauchsobjekt aufgehoben wird und die Gegenstände so miteinander in den Dialog gebracht werden, wie sie von den Künstlern damals gedacht waren.
Insofern bietet die Ausstellung nicht nur etwas für die Augen, sie fordert zur Auseinandersetzung heraus. Dadurch wird sie zum Ereignis.
HNA 23. 11. 1996