Seit 1948/49 von Stuttgart aus die Äusstellung Französische abstrakte Malerei durch Deutschland wanderte, gilt auch hierzulande Pierre Soulages als einer der führenden Vertreter der ungegenständlichen Kunst. Erst zwei Jahre zuvor hatte sich Soulages am Rande von Paris niedergelassen, um sich ganz der Malerei zu widmen. Wie ein Komet stieg er am Himmel der Kunst auf: Einzelausstellungen folgten, Beteiligungen an den ersten drei documenten, 1960/61 dann die erste Retrospektive in Hannover und Essen.
Obwohl Soulages in der folgenden Zeit intensiv weiterarbeitete, geriet er in Westeuropa als zeitgenössischer Künstler aus dem Blickfeld. Umso mehr wurde er in Skandinavien und vor allem in den USA gefeiert. Erst in jüngster Zeit entdeckten die französischen Museen die Aktualität der Malerei von Soulages neu. Die 59 Werke umfassende Ausstellung im Kasseler Museum Fridericianum wird zu einer spannenden Wiederbegegnung mit dem Schaffen eines Künstlers, der in diesem Jahr 70 Jahre alt wird.
Soulages – 40 Jahre Malerei ist die Werkschau betitelt. 40 Jahre Malerei bedeuten im Falle Soulages 40 Jahre Radikalisierung. Der Begriff abstrakt wirkt, auf seine Kunst bezogen, viel zu schwach, denn Soulages hatte nie etwas anderes im Sinn als die reine Malerei. Die schwarzen Balken sind weder Zeichen noch Kürzel, die Kompositionen bergen keine Botschaften, der Künstler will nichts erzählen. Die Malerei hat einzig und allein sich selbst zum Thema – die Spannung zwischen Fläche und Farbe, den Rhythmus des Auftrags und die Verdichtung, die Ausschaltung und Einbeziehung von Licht.
Schon immer bevorzugte Soulages dunkle, fast düstere Farben. Seit Ende der 70er Jahre hat er sich nun fast völlig dem Schwarz verschrieben, gleichzeitig ließ er die Leinwände total zuwachsen, so daß geschlossene plastische Schichten entstanden.
Lebten die Gemälde der ersten 20, 30 Jahre von der Direktheit, mit der der breite Pinsel seine Spuren hinterließ, ist aus dem Spätwerk die Spontaneität verbannt. Die Bilder sind streng und klar aufgebaut, fast konstruktiv. Manchmal fügen sich zwei, drei oder vier Tafeln zu einem Bildganzen. Je länger man sich auf diese Bilder einläßt, desto brüchiger wird die geschlossene Schwärze. Hat man sich eingesehen, wird der Blick offen für die vitale innere Struktur dieser Werke: Mit Hilfe von Pinsel und Bürsten hat Soulages rhythmisch verlaufende Linien und Rillen durch die noch feuchten Farbmassen gezogen. So schuf er innerhalb der einen Farbe ein grafisch-plastisches System aus parallel oder gegeneinanderlaufenden Geraden und Diagonalen, ließ glatte Ruhezonen mit stark bewegten Feldern wechseln und akzentuierte gelegentlich das kleinteilige Liniensystem durch einen großzügigen gestischen Bogen.
Schwarz ist die Abwesenheit von Licht. Indem Soulages seinen malerischen Spielraum auf die Gestaltung mit Schwarz begrenzt und der Farbe eine innere Form gibt, überwindet er sie und läßt sie zum Träger des Lichts werden. Da es aber nicht zum festen Bestandteil der Gemälde wird, ändert sich die Wirkung der Malerei mit dem Standort des Betrachters.
Die großen schwarzen Tafeln, zumal die mehrteiligen, wirken mächtig und weihevoll, fast altarbildhaft. Erstaunlich ist, wie gut und genau der Katalog (128 5,, 39 DM) auch diese schwierigen Bilder dokumentiert. Aus der Kenntnis dieser jüngsten Werke sieht man die Bilder, die zwischen 1947 und 1978 entstanden, ganz neu. Die anfangs fast asiatisch luftig wirkenden Pinselnotierungen versteht man nun als freie spielerische Formen vor einem lichtdurchfluteten Hintergrund. Klar und leicht steht die Malerei vor der hellen Fläche, greifbar und plastisch. Im Laufe der Jahre erstarrten die breiten Striche zu festen Balken. Die Farben verdichteten sich. Und doch schien bis zuletzt das Licht die Trägerin der Malerei zu sein. Im Werk der letzten Jahre hat sich die Bildebene geschlossen. Das Licht ist gewandert – aus dem Hintergrund auf die Oberfläche der Malerei, nun völlig frei und doch hineingezwungen.
HNA 26. 1. 1989