Der Zauber des Doppellebens

Gespräch mit Jean Baudrillard

„„Die Gewalt am Bild““ hat Jean Baudrillard seinen Text betitelt, den er dem Katalog zu seiner Kasseler Foto-Ausstellung beigesteuert hat. Es ist ein strenger, ein radikaler Text, der davon handelt, wie viel Unrecht den Bildern angetan werde, wenn sie etwas ausdrücken sollten oder mit Bedeutung aufgeladen würden. Auf diese Weise werde das Bild seiner Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit beraubt.

Doch gibt es die absichtslose Fotografie? Kann man fotografieren, ohne den gemachten Bildern einen Sinn oder eine Bedeutung zuzuordnen? Vor allem aber: Wie sind diese Aussagen zu verstehen, wenn der Urheber dieser Sätze selbst zur Kamera greift?

Der Philosoph Jean Baudrillard wehrt solche Fragen im Gespräch lächelnd ab: Mit seiner Theorie hätten die Fotografien, die in 20 Jahren entstanden sind, nichts zu tun. Die Fotografie habe bei ihm als reines Spiel begonnen. Mittlerweile, so sagt er, sei ein ernstes Spiel daraus geworden, dem er gelegentlich neben seiner Arbeit als Denker nachgehe. Es ist der Zauber des Doppellebens, der ihn reizt und ihn immer wieder zur Kamera greifen lässt.

Obwohl Baudrillard mit seinen Aufnahmen schon viel Anerkennung gefunden hat, fühlt er sich nicht als Fotograf. Vielmehr zieht er eine klare Grenzlinie zu den professionellen Fotografen, die unter ganz anderen Bedingungen an ihre Arbeiten gingen. Deshalb hat er zwei Bereiche der Fotografie für sich selbst ausgeschlossen – das Schwarzweiß-Bild und das menschliche Gesicht. Die erforderten zu hohe, professionelle Ansprüche.

Baudrillard sieht seine Vorbilder eher in der Malerei, etwa bei Edward Hopper, als in der Fotografie. In der Tat entfalten seine kraftvoll farbigen Aufnahmen häufig eine malerische Wirkung, über die er nicht immer glücklich ist. „Finden Sie die Bilder ästhetisch?“ fragt er zurück. Als die Antwort lautet: „Sehr ästhetisch“, meint er bedauernd: „Leider“. Ihm geht es weder um Wirkung noch Schönheit, sondern um die Details der Welt, die Objekte. Sie sollen sich darstellen und in den Bann ziehen. Die Welt, so meint Baudrillard, kann langweilig sein. In ihren Einzelheiten aber könne sie viele Merkwürdigkeiten bergen.

Je länger das Gespräch dauert, desto klarer wird, dass der Fotograf Baudrillard den Philosophen Baudrillard nicht an sich heran lässt. Mag er als Theoretiker sonst keinen Gedanken auslassen, so macht er um die eigenen Fotos einen großen Bogen. Ihnen will ei nicht zu nahe kommen. Sonst könnte er versucht sein, ihnen eine Bedeutung zu geben: „Im Feld der Theorie gibt es zu viel Sinndeutung.“

Nein, Baudrillard will der Fotografie ihren Zauber erhalten. Also sucht er Zuflucht bei seiner idealistischen Vorstellung, dass ihn die Motive gefangen nähmen, dass die Bilder von selbst kämen – dann wann sie wollten. Er sieht sich nur als Vermittler, als Sender, nicht als Gestalter. Also ist er stolz darauf, von sich behaupten zu können: „Ich bin mir über meine eigenen Bilder nicht im Klaren.“ Er sagt es und freut sich über die Komplimente, die er für seine Fotografien erhält.

Zur Person: Jean Baudrillard (1929-2007) war Soziologe und Philosoph. Nach dem Studium der Germanistik hatte er zunächst Deutschlehrer und Übersetzer gearbeitet 1968 promovierte er in Soziologie in Paris über „Das System der Dinge“. Zu seinen anderen Schriften gehören „Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen“, „Laßt euch nicht verführen!“ und „Das andere Selbst“. Seit 1982 fotografierte Baudrillard.

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