Radikaler Konstruktivist

Vor ein paar Jahren noch wäre eine Ausstellung mit Werken des lettisch-russischen Künstlers Gustav Klucis (1895 – 1944) bei uns schwer vorstellbar gewesen. Zum einen war der Kulturaustausch mit der Sowjetunion noch eine heikle Angelegenheit, zum anderen wäre im Zeichen des Ost-West-Konflikts vielen der Zugang zu einem Werk schwer gefallen, das zu großen Teilen im Dienst der sozialistischen Propaganda entstanden war.

Die Zeiten haben sich geändert. Die Block-Konfrontation ist vorüber und die kommunistischen Utopien sind weitgehend Geschichte. Der Blick wird frei für die ästhetischen Prinzipien, denen Klucis folgte, und so bleibt das Auge beim Betrachten der Plakate nicht mehr unbedingt an den Leitfiguren des alten Systems, Lenin und Stalin, hängen. Es wird vielmehr gerade auch in den agitatorischen Arbeiten erkennbar, welch radikaler Konstruktivist dieser Künstler war. Das wiedererwachte Interesse am Konstruktivismus holt Klucis also auf die Kunst-Bühne zurück.

So kommt dem Museum Fridericianum in Kassel das Verdienst zu, erstmals einen großen Überblick über Klucis‘ Schaffen zu geben. In diesem Fall übernahm Hubertus Gaßner, Leiter des documenta Archivs, die Organisation, der als ein Spezialist für die osteuropäische Avantgarde ausgewiesen ist. Rund 300 Ausstellungsstücke sind zu sehen, vornehmlich Studien, Collagen und Montagen sowie gedruckte Plakate. Die Attraktionen der Ausstellung bilden die Rekonstruktionen der von Klucis entworfenen Objekte.

Gustav Klucis war als Revolutionär aus Riga nach Petersburg und Moskau gekommen. Er hatte am Sturm auf das Winterpalais teilgenommen. Wie viele andere russische Künstler seiner Generation war er aber nicht nur von den politisch-revolutionären Gedanken erfaßt worden, sondern nahm auch vorwärtsdrängend an den künstlerischen Umwälzungen teil. Als Schüler von Kasimir Malevic (Malewitsch) entwickelte er eine zugleich streng konstruktive, aber stark dynamische Formensprache.

Doch obwohl die erhaltenen Bilder von einer großen malerischen Begabung zeugen, schwor Klucis im Gegensatz zu seinem Lehrer der Malerei ab und wandte sich Kunstformen zu, die seiner Ansicht nach mehr Breitenwirkung versprachen – Fotomontagen und Agitationsobjekte.

Wir sind heute schnell versucht, die Objekte als selbstbestimmte künstlerische Konstruktionen zu empfinden. Die unbedingte Formensprache mit ihrer herausbrechenden Kraft und die fast zeitlose Utopie dieser Objekte verstärken diesen Eindruck. Aber das meiste von dem, was Klucis geschaffen hat und was für Kassel rekonstruiert worden ist, war aus einem logischen System für die Zwecke der Agitation entwickelt: Die rund sieben Meter hohe Rednertribüne, die von einer beweglichen Projektionswand gekrönt wird, faszinierende (serielle) Stellwandsysteme für Plakate und Lautsprechertribünen. Die Designer unserer Zeit müssen immer noch neidisch werden, wenn sie sehen, mit welch einfachen Mitteln Klucis zu funktionalen Lösungen fand und dabei gleichzeitig regelrechte Skulpturen schuf. Daneben entstanden auch einige freie architektonische Visionen, die hin zu der Stadt der Zukunft führen sollten.

Als die Keimzelle sowohl seiner architektonischen Konstruktionen als auch seiner Collagen und Montagen gilt das 1919 geschaffene Bild „Dynamische Stadt“. Hier setzt der Konstruktivist dem Chaos der Futuristen eine streng geordnete Dynamik entgegen. Malerische, grafische und fotografische Mittel verbinden sich in dieser Collage zu einer konzentrierten Komposition: Aus dem Zentrum eines schwarzen Kreises scheint die Stadt in einem System von Diagonalen und rechtwinkligen Achsen herauszuwachsen.

Schon hier deutet sich auch Klucis‘ später raffiniert weiterentwickelte Technik der Fotocollage und -montage an. Indem er einzelne Motive verkleinert, vergrößert oder vervielfacht, kann er jene unmittelbare Wirkung erzielen, die heute noch überwältigt: Immer wieder entwickelt sich aus der Vision eines Kollektivs, einer Masse, die einzelne menschliche Figur, die zur Identifikation verführt und zugleich zur Masse hinlenkt.

Klucis arbeitete fast ausschließlich mit den Farben Rot, Schwarz (Grau) und Weiß. Bis zum Beginn der 30er Jahre gelang es ihm, die Motive und Farben in den Plakaten so zusammenzuführen, daß konstruktive, dynamische Grundmuster entstanden. Erst danach verlor sich die Formkraft in der Propaganda

HNA 23. 3. 1o991

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