Spiel und Tod

1963 erreichte unsere Redaktion ein Agenturfoto aus Paris. Es dokumentierte den Erfolg eines deutschen Bildhauers in der europäischen Kunsthauptstadt:
Harry Kramer, damals 38 Jahre alt, zeigte in einer Pariser Galerie seine automobilen Skulpturen, darunter das hölzerne Räderwerk „Endlose Schiene“. Ein Jahr später war der Bildhauer mit zierlich-poetischen Drahtplastiken auf der Kasseler documenta vertreten. Noch ein Jahr später war er Gastdozent in Hamburg. Der Kunstmarktkarriere dieses Künstlers, der als Friseur und Tänzer begonnen hatte, schien nichts im Wege zu stehen.

Doch als Kramer 1970 als Professor für Bildhauerei an die Gesamthochschule Kassel berufen wurde, hatte er die marktgängige Kunstproduktion hinter sich gelassen. Jetzt trat er mit aufsehenerregenden Aktionen hervor und widmete sich ganz seiner Aufgabe als Hochschullehrer, als Anstifter und Anreger. Der Künstler Harry Kramer machte sich rar. Auch sein jüngstes Projekt, das Konzept eines Künstlerfriedhofes mit Monumenten in der Parklandschaft, läßt dem Ideengeber den Vortritt.

In dieses Bild paßt auch Kramers Bemerkung, daß ihm eine Besprechung seines Katalogbuches „Ein Frisör aus Lingen“ (Luca Verlag Freren) wichtiger sei als eine Kritik der Ausstellung, die erst in Stuttgart zu sehen war, dann in seiner Heimatstadt Lingen und die nun im Museum Fridericianum in Kassel gezeigt wird. In dem Buch nämlich stellt sich der Künstler als ein geistreicher Selbstbiograph vor und zeigt damit, daß er, der als Tänzer, Filmer, Bildhauer, Aktionskünstler, Maler und Lehrer erfolgreich war, auch über ein kräftiges Schreibtalent verfügt, Es werden darin die vielen Facetten von Kramers Kreativität beleuchtet: Ein Spieler, der die Grenzerfahrungen sucht, ein Analytiker, der auf die Sinnlichkeit setzt, und ein Künstler, der die Verwandlung liebt, ein Selbstverwirklicher, der die Menschen mit sich reißt.

Doch Kramers Schaffen ist nicht auf Worte zu reduzieren. Man muß es sehen, denn die Kasseler Ausstellung dokumentiert, daß dem Künstler trotz seines Rückzugs aus dem Kunstmarkt im Laufe der Jahre unter der Hand ein umfängliches, vielschichtiges und dazu emotional packendes Werk zusammengewachsen ist. Dem kann man sich nicht entziehen.

Das geht gleich im ersten Raum los, in dem 18 zierliche Drahtobjekte stehen, die ebenso unbeholfen wie poetisch wirken, die grafisch und starr scheinen und in denen sich doch pausenlos nie ganz kreisrunde Räder drehen, in denen es schnurrt und leise klingelt oder monoton scheppert. Diesen automobilen Objekten mag man pausenlos zusehen, weil sie vergnügt leerlaufen und sich ständig verändern, ohne außer Bewegungen und Klang etwas zu bewirken. Diese Anfang der 60er Jahre entstandenen Objekte sind Gegenentwürfe zur funktionalen Maschinenwelt.

Ende der 60er Jahre näherte sich Kramer der Industriewelt und ihrer glatten Sprache: Die beweglichen Polyesterplastiken, die farbigen Schiebeplastiken und Siebdrucke, die in den beiden folgenden Räumen gezeigt werden, sind Kinder einer Zeit, in der Kunst und Technik endgültig zu verschmelzen schienen. Aber auch hier dominiert die spielerische Ebene.

Spielerisch und doch auch ernsthaft geht Kramer auch an die Grundfragen der Existenz heran, an die Fragen nach Endzeit und Tod: Das in Brot gebackene Porträt wird zum Todesbild durch die Patina – den Schimmel unter der Plexiglashaube; und die Bilder der Apokalypse entziehen sich einer malerischen Umsetzung – so kodierte Kramer die Worte des Evangelisten Johannes in Farbpunkte, mit denen er riesige Leinwände vollschrieb. Der Raum mit den Apokalypse-Bildem und Brotköpfen gibt der Ausstellung einen nachdenklich-visionären Schluß, weist Kramer aber auch als einen Künstler aus, der immer wieder souverän eigene Ausdrucksformen findet.

HNA 17. 1. 1991

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