Vom Ursprung einer Bildidee

Eine kleine, hochwertige Studio-Ausstellung stellt im Kasseler Museum Fridericianum Raffaels Bild „Die Heilige Familie mit dem Lamm“ zur Diskussion.

Der aus Urbino stammende Maler Raffael war gerade 21 Jahre alt, als er 1504 nach Florenz kam, um dort im Schatten von Leonardo, Michelangelo und anderen sein Wissen und Können zu vervollkommnen. Bereits im Ankunftsjahr malte er das nur 32 mal 22 Zentimeter große Bild „Die Heilige Familie mit dem Lamm“: Vor einer sanften, weitläufigen Landschaft sind im Vordergrund Maria, Josef und das auf einem Lamm reitende Jesuskind zu sehen. Die fast kniende Maria, die den Mittelpunkt bildet, wendet sich ihrem Kind zu, um es von dem auf den Opfertod verweisenden Lamm wegzuziehen. Jesus selbst blickt fragend zu dem auf ihn sorgenvoll schauenden Josef. Das Glück der jungen Familie wird von den Vorzeichen des späteren Kreuzestodes überschattet.

Raffael hatte damit ein über Jahrhunderte nachwirkendes Bildprogramm komponiert, aufgrund dessen. bereits zu seiner Zeit mehrere Fassungen entstanden. Einige mögen in seiner Werkstatt, eventuell auch unter seiner Mitwirkung, gemalt worden sein, andere stammen aus dem weiteren Umkreis. Die Staatlichen Museen Kassel verdanken einer Schenkung des Barons von Häckel an Landgraf Wilhelm VIII. eine Fassung des Raffael Motivs die im unmittelbaren Umkreis des Malers angefertigt worden sein muß.

Natürlich beschäftigt die Forschung die Frage, welches der erhaltenen Bilder denn das Erstgeburtsrecht habe, an welchen anderen Raffaels Hand noch zu spüren sei und wo lediglich Kopisten und Nachschöpfer zugange waren. Über das kleine Gemälde ist schon viel geforscht worden, aber jetzt wurden dank einer Initiative des Italiener-Experten Jürgen Lehmann vier andere Fassungen um das Kasseler Bild versammelt sowie durch drei Kupferstiche und den Karton, der als Vorlage für das Original diente, ergänzt.

So entstand in der Ausstellung „120 Meisterwerke“ im Museum Fridericianum eine einzigartige Studio-Ausstellung. Die erhoffte Konfrontation zwischen einem aus deutschem Privatbesitz kommenden Bild und der im Madrider Prado befindlichen Fassung, die beide um den ersten Rang wetteifern, blieb aber aus, da die Spanier ihr Bild nicht reisen lassen wollten. Ob nur konservatorische Gründe zur Ablehnung führten, mag bezweifelt werden. Für den Raffael-Experten Jürg Meyer zur Capellen (Münster) wirft das Prado-Bild, das gern als das Original gehandelt wird, einige Fragen auf – so ist die auf das Jahr 1507 verweisende
Signatur durch den Zusatz einer römischen IV ebenso rätselhaft wie die relativ freie Unterzeichnung (die eben nicht ganz der Übermalung entspricht), die eine Röntgenaufnahme sichtbar gemacht hat.

Unter diesen Umständen rückt das aus Privatbesitz kommende Gemälde ins Zentrum, das seit 60 Jahren bekannt und mehrfach untersucht worden ist. Dessen Komposition beruht eindeutig auf der Grundlage der Karton-Vorzeichnung, die mit Hilfe von durchstechenden Nadeln und Kohlenstaub übertragen wurde. Auch die Signatur mit der Jahresangabe 1504 ist klar.

Das Kasseler Bild kann sich in der Nachbarschaft zu diesem Original gut behaupten. Einen noch besseren Stand hat das aus Angers kommende Werk, das als Produkt des Raffael-Ateliers gilt. Hingegen ist die in München beheimatete Fassung vereinfacht und vergröbert. Das aus Pavia kommende Bild schließlich geht weit über den Ursprung hinaus, zeigt eine ganz andere Landschaft und verweist schon auf die Kunst des 17. Jahrhunderts.

Die Ausstellung bietet die seltene Gelegenheit, an einem Beispiel zu studieren, wie eine Bildidee geboren, umgesetzt und variiert wird und wie nur geringfügig scheinende Abwandlungen und maltechnische Differenzen die Wirkung verändern. Im Kleinen ist Großes zu entdecken.

HNA 8. 11. 1995

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