Von der Beziehung der Kulturen

Die Türkin Gülsün Karamustafa (Jahrgang 1946) ist die fünfte Künstierin der Kasseler Ausstellung „Echolot“, die wir mit ihren Arbeiten vorstellen.

Der Schöpfer des Aquarells aus dem 16. Jahrhundert ist unbekannt. Der künstlerische Wert des politisch-demagogischen Bildes ist auch nicht zu beurteilen. Das Aquarell stammt aus einem Buch über das frühere Leben in Istanbul und illustriert, auf welch rüde Art ottomanische Sklavenhändler europäische Frauen begutachteten. So wurden und werden über Jahrhunderte Feindbilder entworfen und weitergetragen: Die anderen Völker und Religionen werden als Barbaren und Ungläubige behandelt; so lassen sich Verfolgungen und Kriege motivieren.

Die Suche nach dem Original des Bildes führte ausgerechnet in der Stadt zum Erfolg, in der Gülsün Karamustafa eine wandfüllende Vergrößerung zeigen wollte: Das Buch mit dem Aquarell gehört zu den Beständen der Murhardschen Bibliothek in Kassel. Die Türkin bringt den Deutschen das Bild zurück, das sich deren Vorfahren vom Orient gemacht haben. Wissen wir, die Kinder des Informationszeitalters, besser Bescheid über die Verhältnisse am Bosporus? Oder erliegen wir nicht ähnlichen Vorurteilen?

Die Aquarell-Vergrößerung ist genau im Zentrum der Ausstellung „Echolot oder 9 Fragen an die Peripherie“ platziert. Gülsün Karamustafa nimmt den Untertitel auf – als eine Art der Selbstbefragung. An den Querwänden des Blocks, der das Bild trägt, hat sie Fragen zur kulturellen Identität aufgelistet. Ohne große Mühe können wir die auf uns übertragen. Nicht nur die Vorurteile verbinden uns.

Es ist, als gebe die Künstlerin selbst Antwort auf ihre Fragen. Im ersten Stock hat sie nämlich einen Fries aus rund 300 Farbkopien gestaltet, in dem sich Illustrationen aus islamischen, christlichen und jüdischen Publikationen ergänzen und überlappen. Wie bei Lessings „Nathan der Weise“ wird die unmittelbare Nähe und Verwandtschaft der drei Religionen offenbar. Die Bilder und Symbole ähneln sich, auch die Denkstrukturen sind bisweilen deckungsgleich. Warum also, lautet die unausgesprochene Schlußfolgerung, handeln wir so, als würden uns Welten trennen?

Gülsün Karamustafa ist eine stille Künstlerin, die den Eindruck erweckt, nur mit unauffällig und ästhetisch wirkenden Mitteln zu arbeiten. Im Grunde aber ist sie zutiefst politisch und entschieden. Am deutlichsten wird das in ihrem dritten Beitrag zu „Echolot“. Da hat sie das Sonntagsfoto eines kleinen Jungen in militärischer Kampfuniform mit 16 Exemplaren dieser Uniform flankiert. Treffender könnte ein auf militärische Autorität und das Gewaltprinzip gegründetes Gesellschaftssystem nicht charakterisiert werden. Die heiter wirkende Arbeit entpuppt sich als Zeitbombe.

HNA 12. 5. 1998

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