Das Bild ist mehr

Mit 22 zeigte er als Student seine erste Ausstellung, fünf Jahre später hatte er bei der Stuttgarter Galerienschau „Europa 79“ seinen internationalen Durchbruch, und nun als 38jähriger kann er im Kasseler Museum Fridericianum sein Werk in einer solchen Breite und Großzügigkeit präsentieren, daß ihn die Ausstellung als einen der ganz Großen dieses Jahrhunderts erscheinen läßt: Der aus Füssen stammende und in der Schweiz lebende Künstler Günther Förg füllt mit seinen Fotos, Gemälden, Bildkästen, Reliefs, Stelen und Skulpturen mühelos die gesamte erste Etage des Fridericianums. Dabei hält Förg keineswegs Rückschau. Das meiste ist in den letzten beiden Jahren entstanden, die frühesten Arbeiten sind drei Jahre alt.

Eine Ausstellung, die sich die meisten Künstler nur erträumen können. Sie soll anschließend noch in das Genter Museum des documenta-Leiters Jan Hoet und nach Leipzig, Tübingen und München wandern. Förg ist in Kassel (zusammen mit Kunsthallen-Chef Veit Loers) eine paßgenaue Inszenierung gelungen, die auf bestechende Weise die Architektur des symmetrischen Baus nutzt. Die Inszenierung beschwört das Pathos, mit dem Förg vor allem in seinen fotografischen Arbeiten spielt. Sie hilft darüber hinaus dem Künstler, die Komplexität (Konsequenz und Widersprüchlichkeit) seines Arbeitens erfahrbar werden zu lassen: Nachdem alles gemalt und alles in Bildern festgehalten ist, hat sich Förg auf die Suche nach dem (einen) Bild begeben.

Diese Suche läßt ihn schier rastlos neue Bilder produzieren, die dokumentieren und zitieren, Haltungen aufnehmen und verwandeln und unversehens zu anderen Erfahrungen führen: Ist das Bild nicht doch mehr als eine gestaltete Fläche? Ist es nicht ein Körper, eine Form auf dem Weg zu Skulptur und Architektur? Und wecken nicht Blei und Kupfer verborgene Kräfte für die Malerei?

In der Überwindung der Fläche, in der Verschmelzung zur plastischen Form liegt das verbindende Element der so unterschiedlichen, im rhythmischen Wechsel präsentierten Arbeiten: Hier eine Wand mit einem Raster aus 22 konstruktiv bemalten, eher stumpfen Bleibildem und im entsprechenden Saal des anderen Flügels 15 auf Holz gemalte Bilder, deren leuchtende Farbkompositionen zwischen Konstruktion und malerischer Offenheit schwanken. In den Räumen dazwischen deckende Malerei auf Kupfer und transparente Farben auf Papier, bronzene Stelen, die wie Mauer-Segmente wirken, und Architekturfotos, konstruktive Farbsysteme und wie aus der Erinnerung auftauchende archaische Masken und Körper-Torsi aus Bronze.

Bereits im Erdgeschoß wird der Besucher in der Rotunde von den ersten wächterhaften Bronzestelen empfangen. Darüber thronen die Masken und Torsi. Dann tritt man nochmals zwischen massive Wandstelen, deren Oberflächen gespurt und gerillt sind, aber doch nicht mehr verraten als die mit Gitterlinien überzogenen Bilder. Erst von hier aus wird man nach rechts und links in die farbige Welt Förgs entlassen, zu den kräftig bunten Gemälden, die das konstruktive Alphabet neu strukturieren, und zu den seriellen Bildern, die das Verhältnis zwischen Malschicht und Malgrund immer neu überprüfen.

Hat man erst einmal die Farbstreifen und -felder auf den 22 Bleibildern gewichtet, wird plötzlich offenbar, daß die malerische Qualität nicht den Farbflächen, sondern den stehengebliebenen Bleizonen entspringt. Nun erkennt man auch, wie die Kupferrillen aus den Farbflächen herausleuchten oder wie der metallische Grund durch die Farbe hindurch scheint.

Mit unglaublicher Intensität erforscht Günther Förg für sich die Möglichkeiten der Kunst. Es ist, als müsse er seinen eigenen bildnerischen Kosmos schaffen Den Atem dazu hat er. Die Möglichkeiten scheinen noch nicht ausgeschöpft. Durch die Ausstellung im Fridericianuni wandert man wie durch einen Bildertempel. Und genau dadurch, daß in Förgs so präsentiertem Werk das weihevolle Pathos ebenso spürbar ist wie das architektonische Design oder die fundamentale Malerei wird die Grundfrage nach dem Wesen des Bildes sinnlich greif bar.

HNA 19. 10. 1990

Schreibe einen Kommentar