Die Linie ermöglicht alles

Mit vier parallel laufenden Ausstellungen, die ab Sonntag mittag zu sehen sind, dokumentiert das Kasseler Museum Fridericianum welche Möglichkeiten in dieser Kunsthalle stecken. Während im Erdgeschoß junge zeitgenössische Maler, die von höchst unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen, mit raumgreifenden Bildern miteinander konkurrieren, sind im ersten Obergeschoß kleine, nahezu unscheinbare Bleistiftzeichnungen des Klassikers Paul Klee zu besichtigen. Ein Spannungs- reiches Wechselspiel.

Hier nun soll erst einmal die Klee-Ausstellung gewürdigt werden, die auch das Herz des Gesamtkomplexes bildet. Ihre herausragende Bedeutung gewinnt die Schau nicht bloß durch den Namen dieses Malers und Zeichners, der die deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts wesentlich geprägt hat. Schließlich hat es in den letzten Jahren Klee-Ausstellungen zur Genüge gegeben. Im Fridericianum aber wird keine Werkübersicht, sondern ein Block von „Späten Zeichnungen“ aus dem Jahr 1939 gezeigt.
Paul Klee, 1879 in der Nähe von Bern geboren, hatte von Deutschland aus die Kunstwelt erobert: 1920 wurde er als Lehrer an das Weimarer Bauhaus berufen, 1930 ging er als Professor an die Düsseldorfer Kunstakademie. Bereits drei Jahre später wurde er von den Nazis vertrieben und kehrte als Emigrant in seine Heimat zurück, wo er 1940 starb. Seine letzten fünf Lebensjahre waren von Krankheit überschattet. Dennoch blieb Klees schöpferische Kraft bis zuletzt ungebrochen: Sein Werkverzeichnis registriert allein für das Jahr 1939 insgesamt 1254 Arbeiten; 962 davon sind Zeichnungen. „Soviel habe ich nie gezeichnet, und nie intensiver…, lautet denn auch das Motto der in Zusammenarbeit mit dem Essener Folkwang Museum arrangierten Ausstellung.

Es wird immer wieder darüber spekuliert, ob und inwiefern diese Zeichnungen die politische Düsternis jener Jahre und Klees Isolation spiegeln. Bei der Auseinandersetzung mit den hier gezeigten rund 120 Zeichnungen muß man sich von dergleichen Spekulationen frei machen, weil sie unergiebig sind. Wirklich sinnvoll ist nur die Untersuchung der künstlerischen Methodik. Die Zeichnungen des Jahres 1939 wirken wie eine geschlossene Serie. Die im Katalog (164 5., 38 DM) vorgenommene Einordnung der nahezu gleichformatigen Blätter als. eine Folge von Tagebuchaufzeichnungen klingt überzeugend: Es scheint so, als habe Klee sich selbst die Pflicht auferlegt, beständig und systematisch zu zeichnen. Landschaftliche Formen und vor allem Figuren wurden in immer neuen Konstellationen erprobt und immer wieder wurden die Kraft und Ausdrucksmöglichkeit der kreuz und quer über das Papier laufenden Linie neu überprüft. Es ist, als, habe Klee ein Vokabular der auf die reine Linie reduzierten Zeichnung anlegen wollen. Das Ergebnis ist die Einsicht, daß die Linie alles vermag.

Klee setzte in diesen späten Arbeiten ganz auf die Kontur; Binnenraum und Schatten blieben ausgespart. Alles scheint auf die Fläche reduziert und doch eröffnen die klaren Liniengerüste Räume und gar plastische Formen. Sein ganzes Schaffen hindurch war Klee auf der Suche nach der möglichst einfachen (kindlichen) und zugleich komplexen Form. In diesen Blättern wird die Erfolgsbilanz dieses Strebens gezogen: Naives verbindet sich mit Raffiniertem, Kindliches mit Hintergründigern. Kunst und Karikatur sind vereint. Ein grandioses Werk.

HNA 4. 11. 1989

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