Nicht immer ist das Ausstellungsspektrum im Kasseler Museum Fridericianum so vielseitig wie derzeit: Während im 1. Obergeschoß das Lebenswerk des klassizistischen Architekten Heinrich Christoph Jussow gewürdigt wird, sind in den Räumen darunter und darüber die anregenden und auch heiteren Arbeiten von Robert Watts und Joe Jones zu sehen, die in der Fluxus-Bewegung gemeinsam gewirkt hatten. Dazu kommen Ausblicke auf die nachwachsende Künstiergeneration
– im Zwehrenturm unter dem Motto Change is good in rascher Abfolge, außerdem zwei Beiträge mit längerer Brenndauer von Studenten der bildenden Akademie in München. In beiden Fällen ist das Private das Reservoir für die Arbeiten, die in Kassel vorgestellt werden.
Simone Böhm (Jahrgang 1971) hat alte Kinderfotos vergrößert und in einem verdunkelten Teil der Rotunde (mit einer fluoreszierenden Schicht versehen) an die Wände projiziert. Ab und zu erhellt ein Blitz die Szenerie und läßt die Bilder wie in einer Geisterbahn aufleuchten. Schön wird es gewesen sein heißt die Foto-Installation, die die Besucher völlig umfängt und sie zwingt, die traumatische Erinnerung für sich zu aktivieren.
Auch Simone Böhms zweite Arbeit spricht direkt an: Auf zwei gegenüberliegenden Wänden sind Video-Projektionen
zeigen: Zwei gleich gekleidete Mädchen schaukeln aufeinander zu, wobei der Rhythmus entsprechend zur Musik von Owada immer schneller wird. Da werden ebenfalls Kindheitserinnerungen in sehr offener Weise vergegenwärtigt.
Noch intimer geht Florian Slotawa (Jahrgang 1972) vor: Er hat seinen gesamten schmalen Besitz – von der Hose über Bücher, Bügeleisen und Fahrrad bis hin zum Auto – genauestens aufgelistet und in einem Besitzkatalog dokumentiert. Diese Alltagsdinge nutzt er, um in wechselnden Ausstellungen unterschiedliche Bezüge herzustellen. So stapelte er die Gegenstände einmal in der Weise, daß sich das Relief der Landschaft ergab, in der er lebt. In Kassel nun hat er alles so aufeinandergestellt, daß jeweils gleich hohe Objekte und Türme entstanden. Sie erreichen alle die Höhe von 1,61 Meter – die Körpergröße seiner Mutter. Mama heißt die Installation. Die Mama also als das Maß der Dinge. Folglich liegt die Vermutung nahe, daß diese Form des geordneten Chaos, die den Dingen ihre Funktion nimmt, eine befreiende Auseinandersetzung mit den Ordnungsvorstellungen der Mama ist. So kann auch das Beiläufigste und Privateste eine öffentliche Bedeutung erlangen.
HNA 24. 6. 1999