Die Künstler unseres Jahrhunderts haben so stark wie nie zuvor die Zeit zum Thema ihrer Arbeit gemacht. Eine Ausstellung im Kasseler Fridericianum versucht eine Bestandsaufnahme.
Ein Gemälde entsteht im Laufe der Zeit, doch seinem traditionellen Verständnis nach kann es selbst lediglich einen Zustand, nicht aber einen Ablauf darstellen. Trotzdem bemühten sich die Künst1er immer wieder, diese vorgegebene Grenze zu überschreiten und Geschichten zu erzählen. Auf diese Weise entstanden Altarbilder, auf denen durch die Aufteilung in verschiedene Zonen die Lebensgeschichte Jesu gespiegelt wird. So konnten die Maler auf einer Tafel unterbringen, was sonst in Bilderfolgen geschildert werden muß. Auch in anderer Hinsicht thematisierte die klassische Kunst die Zeit: Durch Tages-, Jahreszeiten- und Lebensalterbilder wurde der Lauf der Dinge ebenso vorgeführt wie durch die Einbeziehung von Vergänglichkeitsmotiven (Totenkopf, leeres
Glas, verlöschende Kerze).
Die Entwicklung der Kunst in unserem Jahrhundert hat dazu geführt, daß die Künstler ein völlig neues Verhältnis zur Zeit finden konnten. Während das Erzählen von Geschichten an Bedeutung verlor, reflektierten die einen das eigene Leben im Verfertigen ihrer Arbeiten; die anderen experimentierten mit der Realzeit, das heißt sie schufen Abläufe, die genau dem Zeitraum entsprechen, in dem sie sich ereignen.
René Block, der künstlerische Direktor des Museums Fridericianum in Kassel, bereitet in diesen Tagen eine Ausstellung zur Zeit in der zeitgenössischen Kunst vor. Die rund 50 Künstlernamen versprechen eine Schau, die eine Bilanz der Kunst der letzten 40 Jahre zieht.
Block sieht die Ursprünge des Entwicklungssprungs der Kunst in der Dada-Bewegung und bei Marcel Duchamp, das heißt im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. Duchamp wird auch in der Ausstellung vertreten sein, schwerpunktmäßig beginnt die Schau aber um 1960. Entscheidend für die Neuorientierung war, wie Block es sieht, die Entdeckung des Films für die Kunst und das Zusammenspiel mit der avantgardistischen Musik. Daher werden zwei Schwerpunkte innerhalb der Ausstellung Musik- und Klanginstallationen von und zu John Cage sowie ein Raum mit Projektionen von vier Künstlerfilmen der 60er Jahre sein.
Damals entdeckten die Künstler die Gegenwelten zur traditionellen Kunst als Quellen für neue Ausdrucksmöglichkeiten; John Cage widmete der Stille ein Musikstück, Andy Warhol drehte einen Film, der ausschließlich das Empire State Building zeigt und Paik führte einen unbelichteten Film vor. Alle drei Werke, die auch in die Ausstellung aufgenommen werden, haben zur Bedingung, daß sie auf fest umrissene Zeiträume bezogen sind.
Zur Ausstellung gehören aber auch Arbeiten, die die Definition von Zeit und das Verhältnis zu ihr ironisieren, die den Arbeits- und Entstehungsprozeß dokumentieren oder deren Resultate bewußt dem Verfall ausgesetzt werden.
HNA 25. 8. 1999