Das Gehirn als Videokamera

Ein massives, leicht rostendes Eisenpodest vor einer Wand. Auf dem Podest steht ein Gerät aus der Pionierzeit des Fernsehens mit einem kleinen flimmernden Bildschirm. Daneben sieht man in einem Aquarium das Modell eines Gehirns, das mit dem TV-Gerät verkabelt ist.

Der Aktionskünstler Wolf Vostell (1932 – 1998) hat diese Arbeit 1977 entwickelt und sie „Gehirn als Videokamera“ genannt. Damals war die Videotechnik noch etwas für Eingeweihte. So wirkte die Vision von Vostell, die im Kopf entstehenden Bilder könnten direkt auf den Bildschirm übertragen, wie ein heiterer Einfall, wie eine ins Utopische verweisende Provokation. Heute nähern wir uns der Arbeit sachlicher. Wir amüsieren uns zwar über das Oldtimer-Gerät und die Konstruktion, halten aber das, was Vostell damals medienkritisch inszenierte, durchaus für denkbar.

Dieses Ausbrechen aus der klassischen Kunstproduktion – es gibt nicht mehr die Bilder und Objekte alten Stils – und diese Mischung von ernsthaft Visionärem und bloß Spielerischem ist typisch für die Kunstrichtung, die ab heute in der Kunsthalle Fridericianum porträtiert wird. Allerdings gibt es auf die am Portikus gestellte Frage „Was ist Fluxus?“ keine einfache Antwort. Aber nicht deshalb, weil Fluxus so kopflastig und schwierig wäre, sondern weil Fluxus (Fließen) seinem Namen entsprechend nicht auf eine Form festzulegen ist. Die internationale Fluxus-Bewegung, die 1962 bei einem Musik-Festival in Wiesbaden ihre offizielle Geburtsstunde
hatte, ist vieles gleichzeitig – Musik und Aktion, Aufhebung und Neuerfindung der Kunst, Spiel mit Bildern und Wörtern. Prominente Wortführer der Fluxus-Bewegung sind Joseph Beuys, der Vater der sozialen Plastik, Nam June Paik, der Pionier der Video-Skulptur, John Cage, der Mentor der Neuen Musik, Gerhard Rühm, der Wortkünstler, und viele mehr.

Obwohl die Fluxus-Bewegung typisch ist für den Aufbruchsgeist der 60er-Jahre, hatte René Block im Herbst zum 40. Geburtstag von Fluxus mit einer Ausstellung bewiesen, dass der Fluxus-Geist und die Liebe zum heiteren Spiel bis in die jüngste Künstler-Generation frisch geblieben sind. Die Ausstellung, die nun in Kassel gezeigt wird, hat Block für das Institut für Auslandsbeziehungen im Wesentlichen mit zusammengestellt. Sie wurde für das Ausland komponiert und reist seit 1995 durch die Welt. Obwohl sie so etwas wie das Archiv einer lebendigen Legende ist, steckt sie voller Vitalität.

Die Besucher begegnen zahlreichen Künstlern, die sie in früheren documenten kennen lernen konnten, und manche Arbeit enthält direkte Verweise auf das, was in Kassel zu sehen war. Das Zentrum der Ausstellung ist (im großen Saal des ersten Obergeschosses) Nam June Paik gewidmet, der mit seinem Kreuz aus Video-Geräten wiederum George Maciunas (1931 – 1978), das geistige Oberhaupt der Fluxus-Bewegung, ehrt.

Eine Einstimmung in die Ausstellung wird im Ergeschoss gegeben. Da sieht man in Tisch-Vitrinen Kataloge, Editionen und Spiele der Fluxus-Künstler. Außerdem wurden in der Rotunde die witzigen Porträts der Fluxus-Künstler von Emmett Williams installiert: Williams hat auf Pin-Wänden die Namen der Künstler versammelt und ihre Arbeiten kategorisiert.

Die Ausstellung birgt viel Witz und animiert den Spieltrieb. Beispielsweise laden die versponnenen Musikinstrumente von Joe Jones dazu ein, ein kleines Orchester musizieren zu lassen. Daneben gibt es Video-Räume, in denen alte Fluxus-Filme laufen und zwei Hörbars, an denen man in Konzerte, Lesungen und Aktionen hineinhören kann.

HNA 13. 12. 2002

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