Das schlechte Gewissen der Welt

„In den Schluchten des Balkan“: Unwillkürlich denken viele an Karl May, wenn sie den Ausstellungstitel hören. Diese Gedankenverbindung ist gewollt. Der Gang durch die Ausstellung gleicht einer Abenteuerreise, die in unbekannte Regionen führt. Inmitten der Schluchten, von denen viele vermint und von Bunkern übersät sind, begegnen wir Künstlern, die Orientierungspunkte suchen und Wegmarken setzen. Dabei haben sie vor allem eins im Sinn – den Weg in die Normalität zu finden.

Das Video von Sener Özmen und Erkan Özgen ist eine Schlüsselarbeit. Sie zeigt, wie die Menschen aus der europäischen Kulturtradition schöpfen, um in der Moderne anzukommen. Sie sind darauf vorbereitet, doch das Ziel ist so weit, dass Gefahr besteht, sie könnten es verfehlen. Özmen und Özgen nehmen in dem Video die Cervantes-Erzählung von Don Quijote und Sancho Panza auf: Auf Pferd und Esel reiten zwei Herren durch die Schluchten. Sie sind passend für einen Empfang gekleidet. Unterwegs fragen sie einen Landbewohner: Welcher Weg führt zur Tate Modern? Sie brauchen gar nicht zu erläutern, dass sie das Museum der Moderne in London meinen. Der Mann weiß, dass sie nach links müssen.

Die ganze Widersprüchlichkeit der Situation in vielen Ländern des Balkan wird darin gespiegelt. Das geschieht auf eine poetische Art. Die Mehrzahl der Arbeiten hingegen wirkt bitter bis zynisch. Es scheint, als höre der Kreislauf von Verfolgung und Gewalt nie auf. Wenn mit leichter Zeitverzögerung über einen Bildschirm Filme vom Einzug und Aufmarsch der Nato-Verbände in Mazedonien (Zaneta Vangeli) laufen, dann entsteht nicht das Gefühl, da würden Freunde oder Beschützer gezeigt. Eher denkt man an Besatzer.

Der Unterschied zu den Bildern, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern, ist jedenfalls nicht sehr groß. Nahtlos sind die Übergänge von heute zu den Untiefen der Vergangenheit. Drastisch und fastmakaber wird das in einem Video vorgeführt, das in dem Raum der Künstlergruppe Neue Slowenische Kunst (NSK) zu sehen ist: Männer in alten Wehrmachts- und SS-Uniformen gehen mit einem Einkaufswagen durch die Ladenpassagen im heutigen Ljubljana (Laibach).

Der Balkan ist weit weg und war immer ein Sinnbild für Chaos und Krisen. So denken wir gern. Doch Vlado Martek (Kroatien) erinnert mit einer wandfüllenden Arbeit daran, dass der Balkan überall liegen kann. Er hat jedenfalls das Gebiet der USA zum Balkan erklärt. Das heißt: Hinter dieser Übertragung steht der Gedanke, dass die Welt nicht unschuldig ist an den Zuständen auf dem Balkan – entweder durch Wegsehen oder durch ungefragte Einmischung. Insofern machen etliche Arbeiten klar, dass die Welt, die den Balkan skeptisch betrachtet, ein schlechtes Gewissen haben müsste.

Der Versuch, die Ausstellung in ihren vielfältigen Facetten in einem solchen Artikel zu erfassen, ist zum Scheitern verurteilt. Die Säbel, die über der Blutwanne hängen (Hale Tenger), die Flüchtlingskoffer, die sich an der Wand zum Hakenkreuz formen (Rasa Todosijevic) und das Video, das einen bosnischen Heimatverein beim stampfenden Kreistanz in historischen Kostümen zeigt (Danica Dakic) lassen so unterschiedliche Lebensaspekte auf scheinen, das es schwer fällt, alle in gleicher Weis zu erfassen. ,, In den Schluchten des Balkan“ ist eine spannende, manchmal erschreckende, zuweilen auch unterhaltsame Ausstellung, die den Besuchern nicht erlaubt, gleichgültig zu bleiben.

Die Künstler verstehen es, uns direkt anzusprechen. Sie gehen keine umständlichen Wege, halten sich nicht mit formalistischen Diskussionen auf, sondern packen zu – mit Hilfe der dokumentarischen Mittel, die die Fotografie und die Videotechnik bereithalten oder indem sie wie viele ihre westeuropäischen Kollegen die aus der Wirklichkeit übernommenen Objekte für sich selbst sprechen lassen. Das Fremde erscheint vertraut. Dies ist nicht nur René Block größte, sondern auch wichtigste Ausstellung.

HNA 30. 8. 2003

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