Die Frage nach den Vorurteilen

Bis zum 23. November läuft in der Kunsthalle Fridericianum die Ausstellung „In den Schluchten des Balkan“, an der 88 Künstler beteiligt sind. In einer Artikelfolge stellen wir einzelne Arbeiten vor.

Die 1946 in Ankara geborene Künstlerin Gülsün Karamustafa ist den Besuchern der Kunsthalle Fridericianum seit der Ausstellung „Echolot“ bekannt. Da zeigte sie die Vergrößerung eines Aquarells aus dem 14. Jahrhundert, das illustrierte, auf welch rüde Art ein ottomanischer Sklavenhändler europäische Frauen begutachtete . Das Bild sollte den Europäern veranschaulichen, welche Barbaren die Türken seien. Die Künstlerin fand das Original in der Murhardschen Bibliothek in
Kassel.

So brachte sie einer Gesellschaft, die sich schwer tut, ihre Vorurteile gegenüber den Türken abzubauen, ein altes Klischee zurück. Gülsün Karamustafa setzt sich in ihren Arbeiten immer wieder mit der Frage nach der kulturellen Identität auseinander. Auch ihre Beiträge zu der Ausstellung „In den Schluchten des Balkan“ dienen diesem Zweck.

In der Fotoserie „The Hotel Room“ lässt sie erst einmal eine Atmosphäre der Fremdheit entstehen. Mutter und Sohn befinden sich in einem Hotelraum, der kalt und ortlos ist. Zwischen beiden Personen entsteht aber eine vieldeutige Intimität.

Noch drastischer wird die Frage nach der Identität und den Vorurteilen in den drei Plakatfotos, auf denen jeweils ein Mädchen zu sehen ist. In großer eleganter Schrift ist auf die Fotos der Schriftzug „Le Visage Turc“ (Das türkische Gesicht) gedruckt. Die drei Fotos sind wie ein Triptychon geordnet: Außen befinden sich Porträts. In der Mitte sieht man eine fast ganzfigurige Gestalt mit Früchten am Strand. Die Bilder sprechen direkt an.

Der Aufdruck fordert die Betrachter zur Stellungnahme heraus: Haben sie sich nicht genau so türkische Mädchen vorgestellt? Oder sieht das kleine Mädchen links nicht ganz untypisch aus? Der Künstlerin gelingt es, mit ihren Arbeiten die Betrachter aus der Reserve zu locken. Um eine Antwort kommen sie nicht herum.

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