Immer gegen den Strom laufen

Kunsthallendirektor René Block hat seit seinem Beginn in Kassel vor fünf Jahren im Fridericianum konsequent auch junge und experimentelle Kunst gezeigt. Dabei bezog er als Organisatoren seine Mitarbeiter ein beziehungsweise übertrug ihnen die Projekte vollständig. Auf diese Weise öffnete er ein zusätzliches Fenster und ermöglichte einen anderen Blick auf die nachwachsende Kunst.
In seiner zweiten Amtszeit als Kunsthallenleiter verstärkt Block dieses Element. Für das große, für den Herbst geplante Ausstellungsprojekt
sammelte er ein Team junger Kuratoren um sich. Außerdem ging er eine Partnerschaft mit dem New Yorker Projekt „apexart“ ein, das zweimal im Jahr jungen Kuratoren die Möglichkeit gibt, eine Ausstellung zu gestalten. Die Vorschläge der Kuratoren werden anonym eingereicht und von einer Jury bewertet; und die Ausstellungen werden künftig für New York und Kassel geplant.
Die ersten beiden Kuratoren-Projekte werden jetzt parallel zu der Ray Johnson-Ausstellung gezeigt. Sie sind ermutigend und enttäuschend zugleich. Fangen wir mit gelungenen Beitrag an, den große Professionalität auszeichnet: Melissa Brookhart Beyer und Jill Dawsey haben Foto- und Video-Arbeiten aus drei Jahrzehnten unter dem Titel „Walking in the City“ zusammengetragen. Es geht darum, dass Künstlerinnen und Künstler ein neues, ein körperliches Verhältnis zur Stadt suchten und sich entschieden, gegen den Strom in der Stadt zu laufen.
Symbolkraft gewinnt die Arbeit von Sooja Kim: Auf dem Videoschirm ist zu sehen, wie im Gewühl der Menschen, die in beide Richtungen laufen, ungerührt eine Frau mit dem Rücken zur Kamera steht. Die Frau wirkt wie ein Fels in der Brandung, die von den Menschen umtost wird. Ein Gegenstück hat Yayoi Kusama ausprobiert: Ihre Dias dokumentieren den Gang einer Frau durch die Stadt. Mit ihrem farbenfrohen Kimono und ihrem mit Blumen geschmückten Schirm bringt sie fremde Farben in die Industriezonen Manhattans.
Die Konfrontation mit dem Fremden hatte Adrian Piper schon 1973 im Sinn, als sie als farbiger Mann verkleidet durch die Stadt wanderte. Und das Video von Alex Villar führt vor, was es heißt, wenn einer unbeirrt seinen Weg verfolgt und Telefonzellen, Container oder Mauervorsprünge, die ihm in die Quere kommen, nicht meidet, sondern sie übersteigt. Die filmische Dokumentation dieses Hindernislaufs ist ebenso absurd wie komisch. Dagegen steht die Fotoserie von Valie Export, die in stillen, eindringlichen Bildern vorführt, wie sich der Körper die Architektur aneignen kann. Die Ausstellung ist hoch konzentriert und vielseitig. Sie ist ein Beispiel dafür, wie auf kleinstem Raum ein Thema in seinen Facetten gespiegelt werden kann.
Die andere, von Ted Purves organisierte Ausstellung (,‚Denn man sieht nur die im Lichte“) kann weder diese Kraft noch Dichte erreichen. Purves lud Künstlergruppen ein, die soziales Engagement und Kreativität vereinen wollen und zu dem Zweck mit Besuchern und Passanten zusammenarbeiteten.
Beispielsweise haben Kathrin Böhm, Andreas Lang und Stefan Saffer Interessenten aus Kassel eingeladen, in Workshops Ideen und Modellc für die Bewerbung Kassels uni die Kulturhauptstadt zu entwickeln. Für die Beteiligten, die vorher in den von der Stadt angebotenen Diskussionen nicht zum Zuge gekommen sind, mag das eine feine Sachs gewesen sein.
Der jetzt zu besichtigende Modell- und Werkstatttisch hat mehr mit einer museumspädagogischen Veranstaltung zu tun als mit einer Ausstellung. Ähnliches gilt für die anderen Projekte in den Raum (Musikproduktion auf der Straße, Kleidertausch). Der Raum wirkt zwar bunt und frech. Doch bleibt eigentlich alles hübsch im Rahmen. Überrascht registriert man nur, dass es offenbar wieder einmal die Zeit gibt, in der soziale Kreativität mit Kunst verwechselt wird. Dazu braucht man keine Gast-Kuratoren.

HNA 11. 4. 2003

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