Das Werk, nicht die Ausstellung zählt

Porträt Carolyn Christov-Bakargiev

In den ersten Berichten über die Berufung von Carolyn Christov-Bakargiev war zu lesen, wieder einmal sei jemand mit der documenta-Leitung beauftragt worden, den man kaum kenne. Und prompt wurde sie in eine Reihe mit Roger Buergel, Okwui Enwezor und Catherine David gestellt. Es spricht nicht für diese Medien, dass sie solche Kuratoren als unbekannt einstufen, die nur nicht in Deutschland Schlagzeilen machten. Eine Frau, die gerade in Sydney die Biennale 2008 geleitet hat und die seit über einem Jahrzehnt zwischen New York, Rom und Turin viel diskutierte Ausstellungen organisiert hat und die seit 2002 Chef-Kuratorin des Castello die Rivoli Museum für zeitgenössische Kunst in Turin ist , verdient eine andere Einordnung: Lange hat es an der documenta-Spitze keine(n) derart erfahrene(n) Kurator(in) gegeben. Das hängt natürlich auch mit dem Alter zusammen. Waren die meisten documenta-Leiter nach Arnold Bode um die 40, als sie ihre Ausstellung machten, wird die am 2. Dezember 1957 in New Jersey geborene Carolyn Christov-Bakargiev 54 Jahre alt sein, wenn sie im Jahre 2012 die documenta 13 eröffnet.
Ihr Vater ist Bulgare, ihre Mutter ist Italienerin. Carolyn Christov-Bakargiev könnte man als Italo-Amerikanerin einstufen, zumal sie seit ihrem Studium in Pisa vornehmlich in Italien lebt. Doch sie selbst sich als Weltbürgerin, die sich überall zu Hause fühlt. Aber im Grunde hält sie nicht viel von solchen Kategorien – weder in Bezug auf ihre Biographie noch im Blick auf die Kunst.
Bestes Beispiel dafür ist, dass Carolyn Christov-Bakargiev auf die Frage, welchem documenta-Leiter sie sich am ehesten verbunden fühle, am liebsten gar nicht antworten möchte. Dann aber nennt sie Werner Haftmann, der als Theoretiker an der Seite von Arnold Bode die ersten drei documenta-Ausstellungen mitprägte, und Catherine David, deren radikale Auseinandersetzung mit der Avantgarde sie bewundert. Doch ansonsten hält sie nichts von Pauschalurteilen über Ausstellungen. Nicht das Konzept und das Gesamtbild sind ihr wichtig, sondern welche Werke und Installationen innerhalb einer documenta einen bleibenden und folgenreichen Eindruck hinterlassen. Als Beispiele aus der documenta nennt sie die Tische mit den Jeans-Bildern von Andreas Siekmann (2002) und die Stuhlkreise von Ai Weiwei.
Dementsprechend kann sie auch nicht die Frage nachvollziehen, ob sie bei dem Neubeginn in der documenta-Geschichte anknüpfe, den Catherine David 1997 vollzog. Für Carolyn Christov-Bakargiev bedeutete die documenta X keinen Bruch, wie es viele sehen. Die Französin habe in ihrer Ausstellung ebenso Mainstream-Künstler wie übersehene Vorläufer und Außenseiter präsentiert. Gleichwohl bleibt ein Widerspruch: Obwohl es ihr vorrangig um einzelne künstlerische Positionen geht, wählte sie für die Biennale in Sydney mit dem thematischen Motto „Revolutions – Forms that turn“ einen ähnlichen spannungsgeladenen Zugang wie Buergel mit seinen drei Leitragen und der These zur Migration der Formen.
Seit der vierten documenta (1968) hat es innerhalb der Kasseler Ausstellung, sieht man von den Handzeichnungen und den Dokumenten zur Fotogeschichte 1977 ab, keine geschlossene Rückblicke auf die Kunstgeschichte mehr gegeben. Seit 1992 ist es aber üblich, künstlerische Positionen aus früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten als Zeugen für die aktuelle Auswahl aufzurufen. Obwohl die frisch berufene documenta-Leiterin in ihrer ersten Pressekonferenz (ein Tag nach ihrem 51. Geburtstag) mit freundlicher und selbstbewusster Entschiedenheit jede Andeutung zu ihren Vorstellungen für die documenta 13 vermied, darf man davon ausgehen, dass auch ihr Blick in die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zurückgehen wird. In ihrer Biennale in Sydney hatte sie nämlich Werke von Avantgarde-Pionieren wie Joseph Beuys, Marcel Duchamp, Kasimir Malevich, Man Ray, Gordon Matta-Clark, Mario und Marisa Merz, Laszlo Moholy-Nagy, Bruce Nauman, Giulio Paolini, Giuseppe Penone, Michelangelo Pistoletto, Aleksandr Rodchenko, Robert Smithson und Jean Tinguely.
Carolyn Christov-Bakargiev ist nach Catherine David die zweite Frau an der documenta-Spitze. Im Vorfeld der documenta X hatte die Berufung der Französin für viel Konfliktstoff gesorgt, denn nicht nur Davids Distanz und Kühle sorgten für Irritationen, sondern auch ihr ungewöhnlicher Zugang zur Kunst und die Tatsache, dass sie eine Frau war. Heute spielt die Geschlechterfrage keine Rolle mehr. Im Gegenteil: In die Schlussrunde der letzten drei Kandidaten kamen, wie Kasper König (Museum Ludwig in Köln) als Sprecher der Findungskommission sagte, ausschließlich Frauen.
Dass sie überhaupt Kuratorin wurde, hat Carolyn Christov-Bakargiev, wie sie im Gespräch sagt, den Künstlern zu verdanken. Nach dem Studium von Kunst und Literatur arbeitete sie zuerst als freie Kritikerin, bevor sie die Künstler und die Sphäre der Kunst näher kennen lernen wollte und sich entschied, sich auf Künstler-Interviews zu spezialisieren. Dieses Eindringen in die Innensicht schäzten die Künstler und forderten sie auf, an Ausstellungen mitzuwirken.
Die documenta-Stadt hat ihre liebe Not, jede Mal ausreichend viele und qualitätvolle Flächen für die Ausstellung zur Verfügung zu stellen. Für die künstlerische Leiterin ist das wohl kein Problem. Sie hat in Rom und zuletzt in Sydney gezeigt, dass sie einen Spürsinn für gute und ungewohnte Orte hat. In Rom bezog sie neben Ausstellungshäusern den Zoo mit ein, und in Sydney entdeckte sie eine ins Abseits geratene Gefängnisinsel als Raum der Stadt und der Kunst..

Kunstforum 195, Januar 2009

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