Jan Hoets letzte Ausstellung im Museum MARTa Herford
Aus welcher Quelle speist sich künstlerische Kreativität? Sicher am wenigsten aus der akademischen Schulung. Denn irgendwann versuchen viele der zur handwerklichen Meisterschaft ausgebildeten Künstler, das akademische Korsett abzustreifen, das kontrollierte Arbeiten zu überwinden und jene Ursprünglichkeit zu erlangen, die sie an Kindern und archaischen Künstlern bewundern. Andere hingegen treiben ihre Genialität in die Grenzbereiche des Wahnsinns, weil sie von Neurosen getrieben sind oder mit der Last ihres Lebens nur fertig werden, wenn sie durch Alkohol und andere Drogen ihre Phantasien und Albträume freisetzen. Im Auskosten und künstlerischen Umsetzen dieser aus dem Unterbewussten auftauchenden Bilder kommen sie jenen nahe, die als psychisch krank gelten und zur bildnerischen Arbeit angehalten werden. Sie alle haben ganz oder zu Teilen die rationale Kontrolle über ihr Schaffen verloren oder aufgegeben.
Die Kunst des 20. Jahrhunderts hat wesentliche Impulse durch die Einbeziehung archaischer Kunst, vornehmlich aus Afrika und der Südsee, sowie die Kunst psychisch Kranker gewonnen. Die Kubisten und der Blaue Reiter, die Sammlung Prinzhorn und die Surrealisten sowie Jean Dubuffet und die Art Brut haben dazu beigetragen, die selbst geschaffene Abkapselung der normalen Kunst aufzubrechen. Und immer wieder hat es Ausstellungen gegeben, in denen der Grenzbereich zwischen Genie und Wahnsinn, zwischen künstlerischer Besessenheit und zwanghafter Gestaltungskraft, ausgelotet und neu bestimmt wurde. Harald Szeemann versuchte dergleichen, als er in die documenta 5 (1972) die Kunst der Geisteskranken im Spannungsfeld von religiösem Kitsch, Wiener Aktionisten und der neuen Malerei von Penck und Baselitz präsentierte. Später differenzierte er seine Untersuchungen im Museum der Obsessionen, in den Junggesellenmaschinen und im Hang zum Gesamtkunstwerk.
Auch der Belgier Jan Hoet, der eine gewisse Verrücktheit als künstlerische Qualität ansieht, hatte sich verschiedentlich in seinem ab 1975 in Gent aufgebauten Museum für aktuelle Kunst diesem Themenbereich gewidmet. Am umfassendsten gelang ihm das in der 1989 organisierten Ausstellung Open mind, in der er die Pioniere und Außenseiter der Moderne mit den Künstlern konfrontierte, die am Rande des Wahnsinns operieren. Ein besonders reizvolles Kapitel in der Ausstellung bildeten Werke wie René Magrittes 1948 entstandene frech, roh und comichaft gemalte Bilder, die gerade die Frankfurter Kunsthalle Schirn gefeiert hat.
Seinen Abschied vom Museum MARTa in Herford, das er seit 2003 geplant und geleitet hat, nutzte Jan Hoet, um noch einmal die für ihn so wichtige Frage nach den Quellen der künstlerischen Kreativität und damit nach den Möglichkeiten und Grenzen der Kunst aufzugreifen. Erschien die Ausstellung Open mind wie ein Vorwand dafür, die Pioniere der Moderne zu versammeln, um mit ihnen eine Bestandsaufnahme der aktuellen Kunst vorzunehmen, spitzt sich in der Ausstellung Loss of Control der Blickwinkel stärker historisch zu, außerdem wird er subjektiver, intimer und exzessiver. Auch hier ist wieder René Magritte mit Werken aus seiner wilden, provokativen Phase dabei. Dieses Mal aber mit erotisch aufgeladenen Illustrationen zu der Erzählung Madame Edwarda, in denen Penis und Vagina zu Kult- und Bedrohungsobjekten werden.
Die sexuelle Obsession ist ein tragendes Motiv der Ausstellung. Den Kern und Hauptbezugspunkt bildet das umfassend dokumentierte Werk des Belgiers Félicien Rops (1833-1898), der zu den bekanntesten und umstrittensten Künstlern seiner Zeit in Belgien und Frankreich gehörte, in Deutschland aber weitgehend unbekannt blieb. Rops war ein großartiger Zeichner und Maler. In seinen Landschaftsbildern, Porträts und Genreszenen spürt man ebenso realistische wie impressionistische Tendenzen auf. Er beherrschte die brave Abbildung genauso wie die verzerrend-bösartige Karikatur oder die schwülstige symbolistische Darstellung. Viele seiner Bilder hätten in die besten Wohnstuben gepasst. Doch andere Werke werden auch heute noch schamhaft (und zugleich verführerisch anlockend) hinter Vorhängen präsentiert, weil sie ganz schlicht als pornographisch einzustufen sind. Félicien Rops wollte das. Denn seine Bilderreihe unter dem Titel Pornocratès dokumentiert Obsession für die intimsten Phantasien: Eine nackte Frau mit verbundenen Augen lässt sich von einem Schwein führen und geht dabei über die Musen der Künste hinweg, die in den klassischen Sockel eingehauen sind.
Wir können heute nur erahnen, welche Provokation das Werk von Rops im späten 19. Jahrhundert darstellte, in dem einerseits das Sexuelle aus dem täglichen Leben ausgeblendet wurde und in dem andererseits im Verborgenen die Erotik triumphierte und in dem die Frau gerne als teuflische Verführerin dargestellt wurde. Rops, der für sein eigenes Leben keine sexuellen Schranken kannte, unterminierte mit seinen drastischen Bildern die Doppelmoral seiner Zeit und schuf zugleich antiklerikale Bilder, in denen religiöser und sexueller Kult eine seltsame Alliance eingingen. Die Provokation, die Rops im Sinn hat, hat bis heute an ihrer Stoßkraft nichts verloren. Zugleich offenbart sich in Rops künstlerischer Haltung eine erstaunliche Modernität.
Es ist ja nicht nur die Lust, aus der sich die künstlerische Obsession speist. Es kann auch das selbst durchstandene Leiden sein. Von daher lässt sich leicht eine Brücke schlagen zu den Bildern und Objekten, die Louise Bourgeois in unserer Zeit schuf. In ihrer stilisierten Anlage wirken sie vergleichsweise verhalten. Doch unmissverständlich spricht aus ihnen die Verstörtheit. Die erotische Ausstrahlung des weiblichen Körpers als eine Deformation thematisierte 50 Jahre zuvor in eindringlicher Weise Hans Bellmer. Zu Recht sind Bourgeois und Bellmer als zwei sehr unterschiedliche Zeugen für die Aktualität von Rops Kunst in Herford aufgerufen.
Jan Hoet hat den Künstler und Alleskönner Jacques Charlier eingeladen, an der Ausstellungsplanung mitzuwirken und mit seinen Arbeiten insbesondere das Werk von Félicien Rops zu kommentieren. Charlier präsentiert inszenierte Fotos, die die Schwüle der bourgeoisen Endzeitstimmung des 19. Jahrhunderts einfangen, er zeigt karikierende Zeichnungen, die mit Rops Bilderwelt spielen, und er arrangierte Installationen, die den Angriff auf die heilige Kunst dokumentieren sollen. Manches trifft, anderes wirkt vergnüglich. Doch weil Rops ein so vielseitiger und differenzierter Künstler war, wirken die Arbeiten von Charlier oftmals vergleichsweise flach. Spannender ist da schon die Konfrontation mit den Arbeiten der psychisch Kranken, mit den Fotostudien zur Hysterie aus dem späten 19. Jahrhundert von Jean-Martin Charcot und alle anderen künstlerischen Beiträge, die sich dem Zwanghaften widmen. Genau bei diesen Arbeiten gelangt man in den Grenzbereich, der Jan Hoet stets interessierte nämlich in jene Zone, in der die verschiedenen Spielarten künstlerischer Obsession angesiedelt und in der sich der merkwürdig faszinierende Bereich der Kunst von psychisch Gestörten öffnet.
Die Ausstellung ist, was den Anteil der künstlerischen Moderne angeht, keineswegs so breit und repräsentativ wie Open mind. Hier bleibt die Auswahl privater und subjektiver. Das Intime bis hin zum Peinlichen beherrscht die Szene. Jan Hoet ist sich mit der Ausstellung Loss of Control, mit der er sich nach fünf Jahren von Herford und dem herausfordernden Museum MARTa verabschiedet, treu geblieben: Immer bleibt im Arrangement der Werke der dahinter stehende Macher mit seiner Besessenheit für die sinnliche, körperlich spürbare Kunst spürbar. Insofern birgt diese Schluss-Ausstellung wieder eine Spitze gegen das Herforder Bürgertum, das Jan Hoet ebenso verehrte wie auf den Mond wünschte. Man bewegt sich zwischen der Provokation, die immer auch attraktiv und verführerisch ist, und der Hysterie, deren Widerschein in den Bildern wie ein Spiegel für die Besucher wirkt. Keine leichte Kost und doch im Ausstellungsgetriebe ein herausragendes Ereignis. Die schier grenzenlose Kunst macht sichtbar, wo sie eben doch an unüberwindbare Mauern gelangt.
Gelungen war die Idee, die Abschiedsfeiern für Jan Hoet, die mitten in die Ausstellung gelegt war, mit einem Performance-Fest zu verbinden. Es war eine wunderbare Gelegenheit beispielsweise für Marina Abramovic, mit ihrer Performance, in der sie wie eine Statue eine überlange rote Fahne im Wind flattern lässt, nicht nur Jan Hoet als Freund und Förderer zu danken, sondern auch sichtbar zu machen, wie stark das Zwanghafte ein Grundelement ihrer Arbeit ist.
Januar 2009