Das Ergebnis eines großen Gesprächs

Der Nay-Raum der documenta III als Produkt von Arnold Bodes Inszenierungskunst

Vorweg

Zu den Beiträgen, die in der documenta III (1964) das größte Aufsehen erregten, gehörte der Raum, in dem drei vier mal vier Meter große Gemälde von Ernst Wilhelm Nay (1902-1968) in der Weise schräg unter der Decke hingen, dass man das Triptychon als eine Einheit, als ein fortlaufendes Band, sehen und begreifen musste. Der so gestaltete Raum war ein Gemeinschaftswerk des Malers Nay und des documenta-Begründers Arnold Bode (1900-1977), der die Vision hatte, mit Hilfe seiner Raumgestaltung der Malerei ihren spezifischen Ort zuzuweisen. Der Raum überwältigte und fand viele Bewunderer, rief aber auch heftigste Kritik hervor. Arnold Bode und sein umfassender gestalterischer Drang stießen zunehmend auf Widerspruch. Die Hängung wurde als der Versuch verstanden, Nay und seine drei documenta-Bilder in den Himmel zu heben. Der folgende Text will die Gestaltung des Nay-Raumes und die Auseinandersetzung darum vor dem Hintergrund von Bodes Inszenierungskunst beleuchten.

Bode als Inszenator

Der überwältigende Erfolg der ersten documenta beruhte unter anderem auch darauf, dass Bode 1955 im Museum Fridericianum die Werke der Meister der Moderne in ungewohnten und kontrastreichen Räumen präsentiert hatte. Seine Fähigkeit, Ausstellungsräume zu inszenieren, steigerte die Begegnung mit den Meisterwerken. Es war Hans Curjel gewesen, der 1956 in einer Nachbetrachtung zur ersten documenta in der Zeitschrift Die Innenarchitektur im Zusammenhang mit der Ausstellungsgestaltung Bodes erstmals den Begriff inszenieren benutzte. Er schrieb: Man hat erkannt, dass Ausstellungen heute nicht mehr nur ‚gehängt‘, sondern dass sie von Grund auf gestaltet, dass sie inszeniert werden müssen.

Der aus dem Theater übernommene Begriff der Inszenierung (In die Szene setzen, August Lewald 1792-1871) mochte für die Kunstwelt neu sein. Aber es gab schon eine Tradition einer Ausstellungsgestaltung, die nicht nach Genres, Chronologien oder kunsthistorischen Zusammenhängen fragte, sondern auf gestalterische Überraschungseffekte, Kontraste und Raumzusammenhänge, auf Überhöhungen und Abwertungen setzte. Die Inszenierung konnte den Wirkungsgrad der Kunst steigern – oder die Werke in Verruf bringen. Die schlimmsten Beispiele für ideologisch bestimmte Ausstellungsinszenierungen sind uns der Zeit des Nationalsozialismus (NS) bekannt, in der die NS-Kunst pathetisch überhöht und die Moderne als entartet diffamiert worden war. Aber auch die Künstler der Moderne, die Dadaisten und Surrealisten, die Repräsentanten des Jugendstils und der frühen Revolutionskunst waren Meister der Inszenierung gewesen.

Arnold Bode war Maler und Hochschullehrer. Zusammen mit anderen hatte er 1948 die 1932 geschlossene Kunstakademie in Kassel wieder begründet. Bevor er zum Schöpfer und Ausstellungsleiter der documenta wurde, war er aber auch als Ausstellungsgestalter, insbesondere von Messeständen tätig. Diese Arbeit hatte nicht nur sein Raumempfinden geschärft, sondern ihn auch lernen lassen, wie man mit relativ einfachen Kunstgriffen Räume verwandeln und Illusionen schaffen konnte. Ohne diese Erfahrungen hätte er kaum die Kühnheit besessen, das provisorisch hergerichtete klassizistische Fridericianum in eine große Bühne für die Kunst zu verwandeln.

Das Museum Fridericianum, 1779 als erstes für die Öffentlichkeit erbaute Museum auf dem europäischen Kontinent eröffnet, war eine Kriegsruine. An einen Ausbau für die documenta war 1954 weder aus zeitlichen noch finanziellen Gründen zu denken. In Mailand hatte Bode 1953 anlässlich einer Picasso-Ausstellung gesehen, wie gut sich Kunst in einem nur provisorisch hergerichteten Gebäude präsentieren lässt. Noch bevor Bode und seine Freunde in Kassel wussten, welche Künstler und Werke sie 1955 zeigen konnten, entwickelte Bode in einem frühen (undatierten) Konzeptpapier die Vision einer umfassenden Gestaltung:

Es sei vorgeschlagen, die Ausstellung im Museum Fridericianum Kassel zu veranstalten, dessen Innenräume die benötigten Ausmasse haben. Es ist nicht notwendig, dass zu diesem Zweck der Bau innen fertig gestellt sei. Da die Ausstellung nur in den Sommermonaten wäre, ist die Heizungsfrage nicht aktuell. Ist der Bau witterungsgeschützt und der Fusboden begehbar, so wären die wichtigsten Voraussetzungen geschaffen. Der eigentliche Ausstellungsausbau könnte sehr wohl mit Latten, Stoffen, Farbe und plastischen Wandoberflächen geschehen. Die Beweglichkeit des Grundrisses, der Wechsel der Wandflächen, der Wandstrukturen, der Beleuchtung u.s.w. wäre sogar eine erwünschte Erleichterung des Vorhabens. Ein erfahrener Ausstellungspraktiker wird diese Aufgabe sicher leisten.

Als es dann so weit war, verwirklichte Bode eine Fülle von Ideen:

Er schuf eine Ausstellungsarchitektur, die ganz durch den Kontrast von Schwarz und Weiß geprägt wurde und als einzigen Zwischenton Grau zuließ.

Die rohen Backsteinwände waren weiß geschlämmt. Sie wirkten roh und eigneten sich als ideale Projektionsfläche.

Die Fenster waren durch weiße Vorhänge verborgen, so dass nur indirektes, aber gleichmäßiges Licht einfiel.

In zahlreichen Sälen waren vor die Wand rohe Pressfaserplatten als Bildhintergründe gesetzt. Oben (und gelegentlich auch unten) waren die Pressfaserplaten sowie die Hängeflächen durch ein schwarzes Balkensystem eingegrenzt.

Neben den transparenten Vorhängen vor den Wänden gab es in einigen Räumen schwarze Plastikvorhänge (göppinger plastics), die Entsprechungen bildeten zu den schwarz gestrichenen Wandabschnitten. Vor die schwarzen Vorhänge waren – wie große Bilderrahmen – Pressfaserplatten gesetzt, auf denen einzelne oder jeweils mehrere Bilder gezeigt wurden. Dann wieder hingen Gemälde direkt vor den transparenten Vorhängen.

Bode hatte also Räume mit stark wechselnden Wänden und Hängeflächen gebaut, die aber auf Grund der klaren Schwarz-Grau-Weiß-Kontraste einheitlich wirkten. Bilder wie Pablo Picassos Mädchen vor einem Spiegel wurde in einem weißen Rahmen auf schwarzem Grund präsentiert. Die hellen Mondrian-Bilder sah man auf schwarzen Wänden, die allerdings nicht die ganze Raumhöhe einnahmen.

Alle diese gestalterischen Maßnahmen dienten einer einheitlichen Struktur mit wechselnden Erlebniszonen. Die Wirkung der Bilder und Skulpturen sollte gesteigert werden. Aber der Charakter der gerahmten Gemälde blieb unberührt. Sie wurden lediglich vor unterschiedlichen Wänden vorgeführt.

Anders verhielt es sich bei dem Kunstgriff Bodes, Gemälde an schwarzen Metallständern zu befestigen, die mit Hilfe eines Winkels vor die Wand gesetzt waren. Die traditionelle Zuordnung der Bilder zu den Wänden war damit aufgehoben. Die gerahmten Gemälde gewannen Objektcharakter. Sie waren wie Skulpturen in den Raum gestellt, warfen auf die Wände Schatten und konnten für die Blickführung leicht schräg geneigt werden. Die von den Wänden gelösten Bilder konnten den Raum erobern. Damit hatte Bode 1955 einen Weg eingeschlagen, den er zur documenta III konsequent verfolgen wollte.

Bild und Raum

Bei der II. documenta blieb Bode dem Schwarz-Weiß-Rastersystem mit Begrenzungs- und Deckenbalken, die an eine Fachwerkstruktur erinnerten, treu. Die Raumgestaltung insgesamt war aber im Vergleich mit der ersten documenta relativ konservativ. Die Bilder kehrten, wenn man so will, an die Wände zurück. Eine Erklärung dafür mag auch darin gesehen werden, dass Bode 1959 ein anderes Experimentierfeld gefunden hatte – die Orangerie-Ruine, die er als Kulisse für die Skulpturenausstellung ausgewählt hatte. Das Wechselspiel von grauer Ruine, geweißten Backsteinwänden als Projektionsflächen und den Schatten werfenden Skulpturen schuf eine neue Erlebniswelt. Die plastischen Arbeiten konnten sich frei entfalten. Aber ganz verkneifen konnte sich Bode seinen spielerischen Trieb nicht: Picassos Skulturengruppe Les Baigneurs stellte er in ein flaches Wasserbecken.

Im Jahr 1959 gab die Stadt Kassel eine Image-Broschüre heraus, in der sie sich als Stadt der documenta präsentierte. Arnold Bode konnte darin seine documenta vorstellen. Wie es seine Art war, hielt er sich nicht lange in der Vergangenheit und Gegenwart auf, sondern blickte in Zukunft, um in dem Jahr, in dem gerade die II. documenta lief, auf die dritte Ausstellungsfolge zu blicken, die für das Jahr 1963 geplant war, aber erst 1964 verwirklicht werden konnte.

In diesem Text wirbt Bode dafür, mit der documenta ins wieder aufzubauende Schloss Wilhelmshöhe zu gehen und die Plastik in dem grandiosen, mehrstöckigen Gewölbebau des Oktogon (unter dem Herkules) zu zeigen. Dieser Plan kommt seinem Wunsch entgegen, die Kunstwerke von höchster Qualität in echtem räumlichen Bezug, wie er bisher nur andeutend herzustellen war, oder doch nur vereinzelt, wie z. B. für die Plastiken Henry Moores in der Orangerie in der diesjährigen Ausstellung zu präsentieren.

Knapp zwei Jahre später, zu einer Sitzung der documenta-Gesellschaft am 17. 1. 1961 konkretisierte Bode seine Vorstellung, Kunstwerke in räumliche Bezüge zu stellen. Zu den in Kassel zu zeigenden Bildern meinte er: In ganz besonderer Weise präsentiert, weil wir glauben, daß der Ort, an dem ein Bild hängt, von entscheidender Wichtigkeit ist. Das Bild im Raum in Beziehung zur Nachbarschaft wäre das Thema. Diese Bilder würden durch ihre Qualität einen Ausblick in die zukunft geben.

Aus der Vorstellung wurde Programm. In der documenta III gab es eine eigene Abteilung Bild und Skulptur im Raum. In seinem Vorwort schrieb Bode u.a. dazu:

Ich möchte die documenta III das „Museum der 100 Tage“ in Kassel nennen. Hier werden die Leistungen der Kunst des 20. Jahrhunderts nicht in einem imaginären, sondern in einem realen Museum sichtbar vor Augen geführt. Die junge Generation eröffnet hinzutretend den Blick auf morgen. Aber auch die Beziehungen des Bildes, der Handzeichnung und der Skulptur zum Raum sollen dargestellt werden.

Wir haben eine Entwicklung durchlebt, die das Kunstwerk aus seinen geistigen, und das heißt gesellschaftlichen und architektonischen Zusammenhängen, aus Kirchen und Palästen herausgelöst hat und die es zu dem Inhalt des Museums alter Form hat werden lassen; die Kunstwerke wurden nach historischen, nach katalogisierenden, vielleicht auch nach ästhetischen Gesichtspunkten aneinandergereiht und durch die Verluste ihres ursprünglichen Ambientes vereinsamt und erniedrigt…

Daher versuchen wir nun, Räume zu schaffen und Raumbezüge herzustellen, in denen Bilder und Plastiken sich entfalten können, in denen sie sich nach Farbe und Form, nach Stimmung und Strahlkraft steigern und verströmen. Dies wird nicht immer gelingen können. Aus vielen Gründen werden die Wettkämpfe der Kunstwerke und ihrer Schöpfer und damit die Widersprüche zwischen ihnen in Raum und Zeit auch in unseren Anordnungen wirksam sein.
In vielen Fällen aber unterstützen die uns gegebenen Voraussetzungen dreier großer, zum Teil zerstörter Gebäude in Kassel die Bestrebungen einer architektonische
Raumregie. Was wir meinen, sollte unsere Darbietung von Sam Francis, Victor Vasarely, Ernst Wilhelm Nay, Emilio Vedova, Henry Moore, Ben Nicholson und Karl Hartung besonders deutlich machen.

Nay war skeptisch

Ende der 50er-Jahre des vorigen Jahrhunderts gab es zahlreiche Künstler, die über das Bild hinaus in den Raum dachten. Yves Kleins großformatige Farbtafeln für das Gelsenkirchner Theater waren nicht mehr austauschbarer Wandschmuck, sondern wurden zu prägenden Raumobjekten. Bernard Schultze entwickelte aus seiner Malerei heraus Bildreliefs, aus denen sich schließlich ab 1961 seine Migofs, rätselhafte skulpturale Elemente, halb Mensch, halb Tier, herauslösten. Und Emilio Vedova begann Anfang der 60er-Jahre damit, seine expressiv bemalten Bilder durch in den Raum gestellte Bildobjekte zu erweitern. Diese Tendenzen gaben Bode Recht, an seinem Projekt Bild und Skulptur im Raum zu arbeiten.

Allerdings gehörte Ernst Wilhelm Nay nicht unbedingt in diese Reihe. Der in Köln lebende Maler machte sich zwar intensiv Gedanken über Raum und Zeit. Dieses Denken aber war, wenn man es in Beziehung zu Bodes Idee von ‚Bild und Skulptur im Raum‘ setzt, rein theoretischer, kunstphilosophischer Natur und hatte nichts mit dem Überwinden der Bildfläche, des Rahmens oder der Eroberung des physischen Ausstellungsraumes zu tun. Wenn Nay vom Gestaltwerden der Farbe sprach, dann bezog er sich, was die künstlerisch-handwerkliche Ebene angeht, immer auf die Leinwand, die Bildfläche. Nachdem er für sich und seine Malerei den illusionistischen Bildraum zerstört hatte, wollte er sich nicht wieder dem Raum zuwenden (Die beste Kunst ist unillusionistisch. Bewegung illusionistisch darzustellen ist billiger Naturalismus.)

Am 24. 1. 1964, also in der Zeit, die unmittelbar der Arbeit an den documenta-Bildern vorausging, erläuterte Nay in einer tagebuchähnlichen Notiz (E.W. Nay: Lesebuch, DMont, Köln 2002), an was er dachte, wenn er vom Raum sprach: Ich selbst sehe mich in der Welt von einer Vielzahl von Utopien umstellt und außerhalb von Idealismus und Materialismus. Die Utopien sind: was das Universum, ‚die Natur‘, angeht: Aufhebung des perspektivischen Raums, daher der Mensch ungeortet, Aufhebung der Dimensionen, es kann Millionen Dimensionen geben, wir erfassen sie nicht, Raum und Zeit als undefinierbare Einheit, Dynamik und Materie als undefinierbare Einheit, die historische Welt (jetzt 10000 Jahre) möglich zwei Millionen Jahre.

Bereits sechs Jahre zuvor hatte sich Nay in seinen Aufzeichnungen (in Retrospektive E.W. Nay, DuMont, Köln 1991) ganz ähnlich geäußert: Manche Bilder haben dabei etwas von Uhren – Tachometern, sie scheinen zu ticken. Eine neue Vorstellung von Raum zugleich und von Zeit. Eine Vorstellung, die Raum und Zeit zu einem Gebilde macht. Und immer ein Realisieren, nie ein Reflektieren. Immer etwas, das vom Auge her im Ganzen erfaßt werden kann, wenn man das Auge nicht ganz als optisches Werkzeug verstehen will.

Als der Maler das für Werner Haftmann zur Vorbereitung der Nay-Monographie (1960) schrieb, ahnte er nicht, dass rund fünf Jahre später die Augen für seine Bilder zum Leitmotiv werden sollten. Denn Nay hatte gerade in der Vorbereitungszeit der documenta III mit der Entwicklung seiner Augenbilder begonnen, die die Serie der Scheibenbilder ablösten.

Zwei Motive mag Arnold Bode gehabt haben, um Nay für sein Projekt zu gewinnen. Zum einen gehörte er zu denjenigen, die Nay für den wichtigsten deutschen Maler der Gegenwart hielten und ihm einen internationalen Rang einräumen wollten. Schon 1959 hatte Bode Nay dadurch ausgzeichnet, dass er dessen großformatiges Freiburger Bild (251×634 cm) an herausragender Stelle platziert und damit ein deutsches Gegengewicht zu den Großformaten der Amerikaner gebildet hatte. Erneut wollte Bode seiner hohen Wertschätzung für Nay Ausdruck geben. Außerdem fühlte er sich dem Maler (über Werner Haftmann) so stark verbunden, dass er glaubte, mit ihm einig zu werden. Zum anderen hatte der Ausstellungsgestalter Bode, der selbst auch Maler war, die visionäre Kraft, sich eine Bilderfolge von Nay in einem ungewohnten Raumzusammenhang so lebendig vorzustellen, wie sie schließlich auch gelang.

Bereits im Laufe des Jahres 1963 hat Arnold Bode damit begonnen, seine Vorstellungen von raumbezogenen Bildern zu konkretisieren und an Raumentwürfen für die documenta III zu arbeiten. Den Vorschlag, Nay dazu anzuregen, ein großes Deckenbild zu malen trug Arnold Bode in einer Programmbesprechung am 20./21. September 1963 vor. Nun begann ein langes und intensives Werben, um auch Nay dafür zu gewinnen.

Bei der documenta-Vorbereitung wurde es 1963/64 erstmals Praxis, einzelne Künstler zu beauftragen für bestimmte Räume Werke anzufertigen, wie Werner Haftmann am 14. 10. 1963 in einem Brief an Rupprecht Geiger schrieb: … Ihre Vermutung betreffend die Auftragserteilung durch DOCUMENTA stimmt insofern, als wir wirklich gern Künstler anregen möchten, für bestimmte räumliche Situationen und am Ort etwas zu machen. Für regelrechte ‚Aufträge‘ ist unsere finanzielle Decke zu kurz.

Bodes Idee zu einem Deckenbild, wie es anfangs hieß, war Nay offenbar fremd. Die Öffnung des Bildes zum Raum war nicht sein Thema. Deshalb mussten bei ihm erst einmal Widerstände überwunden werden, wie Haftmann am 8. Oktober 1963 nach einem Besuch bei Nay in einen Brief an Bode schrieb. Werner Haftmann bot sich als idealer Vermittler an, weil er als theoretischer Kopf der documenta zugleich Freund und wichtigster Monograph von Nay war. Wörtlich heißt es in dem Brief an Bode:

Lieber Bode, ich hatte in den letzten Tagen längere Gespräche mit E. W. Nay in Sachen seiner Beteiligung an DOCUMENTA. Die Vorstellung eines Deckenbildes in Deinem ‚musée-pilote‘ leuchtet ihm nicht ein. Er fürchtet auch, dass ihm Dekorativismus vorgeworfen werden könnte, was ihn im Augenblick sehr treffen würde. Für eine Wand wäre er unter Umständen zu haben, wenn man ihm die Situation schmackhaft machen könnte. Er lehnte jedenfalls die Idee nicht ab, ohne aber besonderen Enthusiasmus zu zeigen. Dabei bemerkte ich, wie schwer es ist, eine bestimmte Konzeption, die man nur in Grundzügen kennt, einem Maler verlockend zu machen. Es ist durchaus notwendig, dass Du einmal – und recht bald – in Köln bei Nay vorbeisiehst und ihm an Hand Deiner Pläne Deine Vorstellung direkt erläuterst. Das Terrain ist präpariert. Vielleicht fängt er gar Feuer und malt Dir irgendetwas für Dein ‚Musée-pilote‘! – Vorläufig sind wir so verblieben, dass wir unter allen Umständen 4 bis 6 gleichformatig größere Bilder von ihm haben können, mit denen Du Deinen Raumplan arrangieren kannst. Dabei sieht er sich ganz gern in der Nähe von Sam Francis und Rothko, Namen die Du im Gespräch als ungefähre Nachbarn nennen kannst. – Mit anderen Namen sei lieber zurückhaltend.

Den Zeilen ist zu entnehmen, dass nicht nur Nay anfangs skeptisch war, sondern auch Haftmann, dem die Rolle nicht gefiel, eine bestimmte Konzeption, die man nur in Grundzügen kennt, einem Maler verlockend zu machen. Er erwartete auch von dem Auftrag, wenn er denn angenommen würde, nicht viel. Sonst hätte er nicht geschrieben: Vielleicht… malt [er] Dir irgendetwas.

Die Ausführung

Arnold Bode ließ sich nicht beirren und entwickelte aus der Idee eines Deckengemäldes den Plan für einen langgestreckten Raum, in dem drei quadratische Gemälde schräg unter der Decke hängen sollten. Doch selbst Mitte Dezember 1963 war Nay von der Idee nicht überzeugt. So musste Bode am 16. 12. 1963 schreiben: Ich wünschte sosehr – daß sie die Raumbilder malen! Mir scheint es, daß wir wieder den Raum und geistigen Ort für das ‚Bild‘ gefunden hätten! herzlichst Ihr Arnold B

Der Bode-Brief beweist, wie intensiv sich der Ausstellungsplaner in die Idee verbissen hatte und wie er versuchte, mit Alternativvorschlägen Nay für das Projekt zu gewinnen. Der Brief vom 16. 12. 1963 beginntmit den Zeilen:

Lieber EW Nay
Die Pläne beiliegend! Ein Zettel(angehängt) einige Erklärungen! Der letzte Vorschlag III ist wohl die Lösung – wenn Sie 3 Bilder als Folge malen wollen. Wenn 2 Bilder, also ein Bild 4 x 4 m, das andere 4 x 8 m (in zwei Teilen), dann Raum I.

In den Anlagen erläutert drei mögliche Bilderfolgen, wobei er auch schon bestimmte Farbklänge vor Augen hat. Arnold Bode selbst hält den dritten Vorschlag für den besten und legt ihn Nay ans Herz:

Raum III – Wände und Decke in grauen Eternit-Flächen – Bild A = 4 x 4 m, Bild B = [4 x 4 m], Bild C = [4 x4 m] – 3 Bilder im Raum – als Raumbilder in der Farbfolge! Diese Lösung hat das Besondere, daß das Bild C = gleich über dem Durchgang liegt! Also nie durch die Passage der Besucher = verdeckt wird. Scheint mir die beste Lösung! B.

Zeichnung I II III – zeigt den EW NAY Raum als Entwurf – im Museum Fridericianum zu Kassel – neben dem großen Sam Francis Raum

Modell – von Raum III kommt noch! (wird am Ende der Woche abgeschickt) – dann kann man alles räumlichen sehen! Mir scheint, daß dann das Modell noch überzeugender ‚die Raumvorstellung‘ sich vorstellen lässt!

Elisabeth Nay-Scheibler schildert in Ihrem Aufsatz „Ohne Filter – Erinnerungen an die letzten Jahre“ (im Frankfurter Katalog E.W. Nay – Bider der 1960er Jahre, München 2009) Nays Arbeit an dem Projekt, nachdem er endlich eingewilligt hatte:

1964 kam eine große Herausforderung auf Nay zu: Auf die drängenden Bitten des nimmermüden Arnold Bode (Initiator und Erfinder der documenta in Kassel), der Nay gebeten hatte, für sein Programm ‚Bilder im Raum‘ der documenta III (1964) drei übergroße Ölbilder im Format von 4 x 4 Metern zu malen, ließ sich Nay auf diese Herausforderung ein. Der temperamentvolle, inspirierte Bode hatte präzise Vorstellungen zu diesem Konzept, sogar einen skizzierten Plan, und verstand es, Nay für diese Idee der drei großen Bilder zu gewinnen.

Sie beschreibt dann die Hindernisse und Schwierigkeiten: Die vier Quadratmeter großen Leinwände mussten in Belgien angefertigt werden. Auch war das Atelier mit seinen drei Metern Höhe für die Aufgabe eigentlich zu klein. So mussten die Leinwände auf dem Boden ausgebreitet oder so an der Wand befestigt werden, dass ein längeres Stück auf den Boden herunterging. Da Nay mit Socken vorsichtig über die Leinwände ging, wurden die Ölfarben durchs ganze Haus getragen. Weiter heißt es bei ihr: Man konnte die Bilder eigentlich nur richtig betrachten, wenn man auf die unter den Fenstern gelegenen Heizkörper stieg; viele Besucher scheuten nicht davor zurück. Es war Nay natürlich wichtig, dass er eine Bestätigung oder auch Kritik erhielt.

Elisabeth Nay-Scheibler weist darauf hin, dass das Gemälde Grau und Olivgrün, das Nay 1964 malte und das 1976 als Geschenk an die Neue Nationalgalerie in Berlin ging, als eine Vorarbeit zu den Raumbildern entstand. Das Bild war mit seinen 2 x 1,60 Metern knapp nur halb so groß wie die documenta-Gemälde, doch die Arbeit daran half dem Maler, sich mit den Proportionen und auch mit dem Farbprogramm auseinanderzusetzen. Das Berliner Gemälde muss als eine Vorstudie zu dem Bild C (Weiß-Schwarz-Grau) angesehen werden.

Die Kompositionen

Ernst Wilhelm Nay war in der documenta III doppelt vertreten. In der Abteilung Kabinette stellte er sechs Gemälde aus den Jahren 1963/64 vor, die er mit den Titeln Die Nacht, Traum, Himmelsrichtung, Quell, Meteor, Das Licht bezeichnet hatte. Sein anderer Beitrag waren die drei unter die Decke gehängten Gemälde, die jeweils schlicht Docmenta BildA, B und C hießen. Alle nach Kassel geschickten Bilder gehören zu der 1963 neu begonnenen Serie der Augenbilder, in denen noch ein Nachhall der Scheibenbilder zu spüren war.

Die sechs Kabinett-Bilder, alle mit dem Format 200 x 160 cm knapp halb so groß wie die Deckengemälde, erscheinen wie der Teil einer schier unendlichen Serie von Variationen. Sie erscheinen sehr dicht, kontrastreich und lebhaft. Einerseits führen die Farben ein Eigenleben, andererseits ordnen sie sich fast widerwillig den (Kreis-)Formen unter. Die mit kräftigen schwarzen Pinselstrichen umrissenen Augen und hineingesetzten Linsen halten sich mal an die darunter liegenden Farbkreise, dann wieder lösen sie sich von den Formen. Nur gelegentlich bilden sich Augenpaare heraus, die wie in den Bildern Meteor oder Himmelsrichtung magische Qualität gewinnen und auf den Betrachter zurückblicken.

In dem Nay-Raum mit den Deckenbildern sind es rund 30 Augen, die auf den Besucher aus der Höhe herabblicken, wobei das Augenpaar, das links oben in dem Documenta Bild B (Blau-Rot-Gelb) zu sehen ist, eine besonders magische Kraft entwickelt. Von daher ist richtig, was Wolfgang Rothe in seiner Kritik (Sonntagsblatt , 23. 8. 1964) schrieb: Aus jedem der Bilder, unter denen man hindurchgehen soll, blickt eine Anzahl von Augen auf den Kunstpilger nieder. Die Kommentare reichen vom ‚Auge Gottes‘ bis zum allgegenwärtigen ‚Großen Bruder‘ aus Orwells pessimistischer Utopie ‚1984‘.

Schaut man sich die Bilder einzeln an, dann fällt das in der Mitte hängende Documenta Bild Caus der Reihe heraus. Das Gemälde wirkt stark zeichnerisch. Die Farbigkeit ist im Vergleich mit den anderen beiden Bildern ungewöhnlich weit zurückgenommen. Lediglich im unteren Bereich entwickelt sich zwischen den Schwarz-Grau-und-Weiß-Tönen eine sehr verhalten angelegte gelbe Schicht. Und in dem Grau unten rechts gibt es Spuren von Rot-Braun. Die größte Überraschung bildet die große weiße Fläche, vor allem im oberen Bereich. Sie öffnet die Komposition, verleiht ihr estwas Schwebendes.

Ja, man könnte versucht sein, das Bild als studienhaft und unfertig anzusehen, gäbe es nicht das Berliner Gemälde Grau und Olivgrün von 1964, das Nay nach Auskunft von Elisabeth Nay-Scheibler zur Vorbereitung seiner drei Deckenbilder schuf und das in seiner Grundstruktur dem Documenta Bild C sehr nahe kommt. Auch in ihm wird die Farbigkeit radikal reduziert, und auch in ihm gibt es die dominanten Weiß-Flächen, die ihm eine Offenheit verleihen.

Beide Bilder, das Berliner und das aus dem documenta-Raum, sind als Kontrapunkte zu den anderen Kompositionen anzusehen. Mit ihnen stemmte sich Nay gegen die Farbenflut, mit der er zu jener Zeit seine Gemälde überzog. Und da das Documenta Bild C mit Blick auf das Berliner Bild wie die Bekräftigung einer Kompositionsidee wirkt, kann es als der Auftakt zu der documenta-Serie verstanden werden. Auf seine Bedeutung in der Abfolge wird noch einzugehen sein.

Im Gegensatz zum Bild C erscheint das Documenta Bild A (Rot-Grün) wie eine Farborgie. Auf einem grünen Grund liegen fünf scheibenförmige Flächen, die durch gelbe Pinselstriche umrissen und zugleich in Bewegung gesetzt werden. Darauf sind wiederum schwarze, grüne und weiße Felder, Punkte und Augen gelegt. Es ist eine sehr dichte, von den Rottönen beherrschte Kompostion, in der statische und dynamische Kräfte miteinander ringen.

Ebenso intensiv durchgestaltet ist das Documenta Bild B (Blau-Rot-Gelb). Allerdings wirkt es im Vergleich mit den beiden anderen Bildern wilder und expressiver. Von oben rechts dringt in roher Malweise eine gelbe Zone vor, in die sich Rot und Schwarz einmischen. Überhaupt scheint es so, als müssten sich die roten Felder mühsam an die Oberfläche vorkämpfen. darüber liegt das Schwarz, das mal die Augen markiert und mal das Blau dunkel tönt.

Es reizte Nay offenbar, gelegentlich seinen Augen Blickkraft zu geben. Aber er vermied allzu illusionistische Malweisen. Das obere, schwarz markierte Augenpaar gewinnt vor allem dadurch seine Anziehungskraft, weil es durch die darunter liegenden weißen Felder lebendig und annähernd gegenständlich wird. Allerdings schob Nay diese Verführung zum Illusionistischen schnell wieder weg, indem er das Weiß sich wolkenhaft ausbreiten ließ.

Die Frage der Bilderfolge

Arnold Bode hatte zuerst an ein großformatiges Deckengemälde gedacht. Als er schließlich Nay am 16. Dezember 1963 konkrete Vorschläge für den documenta-Raum machte, hatte er zwei grundsätzliche Möglichkeiten vor Augen: Entweder sollte Nay drei quadratische Bilder im Format von 4 x 4 Metern malen oder zwei Bilder, von denen das zweite 4 x 8 Meter groß sein sollte, aber eventuell aus zwei Teilen bestehen könnte. Bode und Nay verabredeten schließlich eine Abfolge von drei quadratischen Gemälden, wobei Bode stets von den Bildern A, B und C sprach. Bild C sollte über dem Durchgang hängen, den es allerdings in der Frankfurter Rekonstruktion gar nicht gibt.

E. W. Nay übernahm insoweit Bodes Vorstellungen, als er für die Bildtitel ebenfalls die Buchstabenfolge A, B und C wählte. Im Werkverzeichnis der Ölgemälde, Band II (DuMont, Köln 1990) sind die Bilder wie folgt gekennzeichnet: Documenta Bild A (Rot-Grün), Documenta Bild B (Blau-Rot-Gelb), Documenta Bild C (Weiß-Schwarz-Grau). In dieser Abfolge sind sie aber weder 1964 in Kassel noch jetzt in Frankfurt gehängt worden. Das Bild C, das dem Titel nach das letzte in der Reihe sein sollte, ist in der Mitte zu finden. Unter ästhetischen und dramaturgischen Gesichtspunkten ist das sehr gut nachvollziehbar. Denn dieses Bild mit seinen dominierenden Schwarz- und Weiß-Flächen und den behutsamen Gelbtönen wirkt wie ein Puffer zwischen den beiden farbkräftigen Kompositionen. Es vermittelt, nimmt die Farbspannung leicht zurück und lässt die beiden anderen umso nachdrücklicher wirken. Doch wieso legen die Bildtitel eine andere Abfolge nahe? Und wann wurde gegen die Logik der Titel im Sinne einer spannungsreicheren Abfolge die realisierte Hängung festgelegt? Immerhin kann man davon ausgehen, dass die Festlegung der Abfolge nicht spontan entschieden worden war. Denn bereits im Katalog documenta III Malerei Skulptur sind die drei Gemälde auf einer herausklappbaren Bildtafel in der Reihenfolge B-C-A zu sehen.

Auf dieser Tafel sind die drei Bilder wie ein Triptychon zu sehen. Sehr schnell erkennt man, dass dieses Nebeneinander nicht so gut funktioniert. Beispielsweise ergibt sich in der Deckenhängung durch die weiße Zone im unteren Bereich des Bildes B ein direkter Anschluss für die weiße Fläche im Bild C. Diese Beziehung geht im Nebeneinander verloren. Das heißt: Im Vergleich der Katalogabbildung und der realisierten Hängung unter der Decke wird einsehbar, dass da nicht einfach drei Gemälde hintereinander gezeigt wurden, sondern dass sich Nay sehr wohl auf Bodes Idee einließ und die Bilder auch als eine Abfolge malte.

Durch das Bild B gewinnt die Reihe einen starken Auftakt. Die blaue Farbe und das obere Augenpaar ziehen förmlich in den Raum hinein. Das von oben vordringende Blau kann als die Himmelsfarbe angesehen werden. Und da, wo die Bilderfolge an ihr Ende kommt und nach unten weist, setzen sich Grün und Rot durch. Es ist also nicht ganz abwegig, die Farbfolge vor dem Hintergrund einer Landschaft zu sehen. Entscheidend aber ist, dass sich Schwarz, Weiß und Gelb als die durchgängigen Gestaltungselemente erweisen, auch wenn Blau, Rot und Grün auf den ersten Blick dominanter erscheinen.

Die Wirkung

Der Malprozess nahm Monate in Anspruch, und auch das Trocknen der Farben zog sich über Wochen hin. Als die Gemälde dann im Kasseler Fridericianum unter der Decke hingen, war Elisabeth Nay-Scheibler begeistert:

Der Eindruck war nachhaltig – und die Hängung geradezu kühn. Nicht nur, dass sich fast jeder Besucher nun an die drei Bilder erinnerte und Nay dadurch berühmter wurde: Die Leuchtkraft der Farben, die jeweils den Klang Grün-Rot, Grau-Schwarz-Oliv und Blau-Gelb-Rot haben, wie auch das Motiv der Augen, das den Eindruck des Schauens und gleichzeitig Geschautwerdens evoziert, hatten eine provozierende Wirkung.

So skeptisch Haftmann anfangs war, so sehr überzeugten ihn schließlich die Bilder und deren gewagte Hängung. In seiner Monographie (E. W. Nay. DuMont, Köln 1991) würdigte er ausführlich das Projekt:

Wir brauchen unsere genetischen Erklärungen nicht weiter zu strapazieren. Denn ein Blick auf eines der nahezu 4 Meter großen quadratischen ‚Documenta Bilder‘ von 1964 – es ist das blaue Bild mit den riesigen, oben aus dem dunklen Blau herausstarrenden Augenpaar – genügt, um die innere Verwandtschaft zwischen diesen ‚blickenden‘ Bildern zu erkennen. […] Es sind drei gewaltige strenge Tafeln, die, als Sequenz gedacht, sich farblich jeweils aus den Kontrasten Schwarz-Weiß, Rot-Grün und Blau-Gelb zusammenfügen. Arnold Bode, der ‚Erfinder‘ der documenta, hatte den Einfall, die Bilder schräg von oben an die Decke eines eigens konstruierten, korridorähnlich gestreckten Raumes zu hängen. Bode wollte nicht nur im üblichen Sinne Bilder an die Wand hängen, sondern mit ihnen Raum bewegen und recht eigentlich herstellen. […] Bode konstruierte für die Bilder von Sam Francis ebenfalls einen eigenen Raum, der oben wie in einer runden Kuppel die hellen, sehr atmosphärischen Leinwände des Amerikaners zeigte. Das war eine großartige Erfindung. Der lange, wie ein hoher Gang geformte Raum wurde von den kontrastreichen Bildern Nays völlig beherrscht und erhielt durch die ‚Blickkraft‘ der Bilder, insbesondere durch das starre Augenpaar des Blau-Rot-Gelben Bildes, eine unheimliche Kraft. Sie löste sich dann, wenn man in den dicht dabei liegenden Kuppelraum mit den Bildern von Sam Francis trat, ins Heitere und Atmosphärische auf, als träte man aus einem mächtigen, hallenartigen Gang zu einem archaischen, ein wenig barbarischen Kultraum unerwartet unter die lichtbewegte Helle eines von Correggio oder Tiepolo freskierten Kuppelraums. Dieser überraschende Gegensatz verstärkte noch die aus sich schon große Wirkungskraft der hängenden Deckenbilder Nays. Sie wäre heute auch mit dem Nebeneinander der drei Bilder nicht mehr ohne weiteres herzustellen. Sie waren von Nay für die ‚documenta‘ konzipiert, natürlich auch als weitwirkende Demonstrationsobjekte seines künstlerischen Standpunkts. Sie sind die rufkräftigsten Erzeugnisse dieses ganzen Jahre.

Die Aussicht auf die von Haftmann beschriebene Nachbarschaft zu den Basler Gemälden von Sam Francis und auf die Wechselwirkung zwischen beiden Räumen mag wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich Nay überreden ließ, die drei Deckenbilder zu malen. Natürlich hat jedes dieser drei Gemälde ein Eigengewicht und eine Qualität, so dass sich jedes auch allein behaupten kann. Gleichwohl ist es richtig, dass sich die Bilder in ihrer Kraft erst in der Konstellation entfalten, in der sie in Kassel 1964 zu sehen waren. Die Staffelung der Gemälde und ihre Schräghängung in großer Höhe forcierten die dynamisch wirkende Staffelung und betonten das Perspektivische. Obwohl alle drei Bilder quadratisch sind, erscheinen sie vom Eingang her wie Bilder, die jeweils zum unteren Ende schmaler werden.

Insofern macht die Frankfurter Rekonstruktion des Nay-Raumes aus der documenta III nicht nur Sinn als die Erinnerung an eine außergewöhnliche Inszenierungsidee. Vielmehr gibt die Annäherung an die Ausstellungsbedingungen von 1964 den Gemälden ihre außergewöhnliche Kraft zurück. Denn nur in dieser Abfolge und in der Schräghängung unter der Decke schließen sie sich zu einer Einheit zusammen, zu einem fortlaufenden Bilderband, zu einem Farbdreiklang, von dem schon Bode sprach. Deshalb ist die beste Position des Betrachters auch die Stelle, an dem der Bilderraum beginnt. Von dort aus bleiben die Bilder, selbst wenn man sie einzeln betrachtet, stets eine Einheit. Geht man unter ihnen hindurch, wie es Bode im Sinn hatte, gewinnen sie tatsächlich die Kraft von Deckengemälden.

Allerdings entspricht der in Frankfurt aufgebaute Raum nicht exakt dem, der 1964 im Museum Fridericianum in Kassel geschaffen worden war: In Frankfurt gibt es nur einen Zugang von vorne, während in Kassel der langgestreckte Raum von beiden Enden her zu betreten war. Auch hängen die Bilder in Frankfurt sehr viel niedriger und in einem flacheren Winkel als zur documenta III. Die Folge ist, dass man vom „falschen Ende“ her nicht so stark auf die Gemälderückseiten schauen kann.

Der rekonstruierte documenta-Raum ist der Höhepunkt der Frankfurter Nay-Ausstellung. Aber er bleibt auch ein Fremdkörper. Denn das Gros der in Frankfurt gezeigten Gemälde aus den Jahren 1966 bis 1968 hat mit den Augenbildern aus dem Jahre 1964 wenig oder kaum etwas zu tun. Denn die die strengen Farb- unf Formuntersuchungen mit ihren reinen und sauber abgegrenzten Farbflächen lassen einen ganz anderen Nay hervortreten. Die Gemälde, die eine ferne Verwandtschaft mit den Papier-Collagen von Henri Matisse aufweisen, sind von einer überraschenden Klarheit und Ruhe. Sie wirken, als hätte sich der Maler sein Vokabular noch einmal neu erarbeiten wollen. Einzig das Gemälde Der Morgen von 1965 enthält Elemente, die auf die Augenbilder zurückverweisen.

Bodes Resumee

Während und nach der documenta III hat sich Arnold Bode mehrfach zu dem Nay-Raum geäußert und ihn bekräftigend in seine Inszenierungsvorstellungen eingeordnet. Im Hessischen Kulturwerk schrieb Bode 1964 über Documenta III – Bilder im Raum. Da passierte es denn auch, dass er die wahren Verhältnisse umdrehte. So ist bei ihm im Zusammenhang mit dem Museum der 100 Tage zu lesen: Das Abenteuer der Gestaltung wird greifbar in kürzester Zeit, bleibt nahe am Objekt und hat teil an der Strahlkraft der Präsentierung. Denn dem durch die drei Komplexe: Alte Galerie, Museum Fridericianum und Orangerie vorgegebenen Rahmen wurde entsprechend den Bedürfnissen, den die Kunstwerke an ‚ihren‘ Ort stellen, ein neuer Kern begehbarer und korrespondierender Räumlichkeit eingefügt. […] Unwürdig ist es doch eigentlich, daß ein Vorbeischreiten, ein Drehen des Körpers durch die konventionelle Hängung erzwungen wird. Dadurch bekommt die Kunst Archivcharakter, und deshalb wurde das Dreiklang-Triptychon von Nay in einer Achse unter der Decke so gestaffelt, daß der Besucher im Unterschreiten der Bildfläche den Dreiklang kontinuierlich wahrnehmen kann.

Das stimmt eben nicht ganz. Zum einen waren es nicht die Bedürfnisse der Bilder, die einen bestimmten Ort wünschten, sondern Bode hatte die Raumvorstellung gehabt, für die Nay seine Gemälde erst noch schaffen sollte. Zum anderen musste und muss man schon den Kopf verdrehen und Hals verrenken, wenn man beim Durchschreiten des Nay-Raumes immer auch den Dreiklang spüren will.

Bode sprach immer wieder vom Dreiklang, meinte aber in einem Interview für das Magazin Kunst (2/1964) daß man die Bilder von Nay, den ich für einen großartigen europäischen Maler halte, nur einzeln betrachten kann. Da Bode seine Argumentation immer der aktuellen Situation anpasste, blieben Widersprüche nicht aus. Richtig ist, dass, wie er in dem Interview sagte, in dem Nay-Raum die Unordnung der Umgebung, die Nachbarschaft anderer Bilder weggeblendet war: Der Betrachter ist mit den Bildern allein und erlebt vielleicht ein Stück von der Einsamkeit, in der diese Bilder auch entstanden sind. Was man hier findet, ist, wenn Sie so wollen, ein sakraler Raum – etwas Anderes selbstverständlich als die Kirche – etwas Neues, eben das Museum, das für uns heute an diese Stelle treten könnte, mit viel verschenktem raum, so nutzlos und so schön, wie es auch ein Gedicht bisweilen sein kann. Auch in einem Interview der Zeitschrift Form zog Bode den Vergleich mit den Kirchen und den Deckengemälden des Barock. Er räumte zudem ein, dass durch einige Werke mit unerwarteten Formaten die Bild-im-Raum-Idee nicht ganz verwirklicht werden konnte. Das Wichtigste in dem Interview ist aber Bodes Festsstellung, dass er sich in gewisser Weise als Mitautor des Nay-Raumes sah:

Man kann Nay glauben, man kann sagen, er ist ein großartiger Maler oder er ist ein Scharlatan. Ich bin der Meinung, daß die drei Bilder, die Nay für diesen Raum gemalt hat, zum Besten gehören, was er je geschaffen hat. […] Diese Bilder sind im Grunde Ergebnis des großen Gesprächs gewesen, des Gesprächs zwischen dem Maler und dem Erbauer des Raumes. Nay hat in diesem Gespräch begriffen, daß er einmal in einer Folge von drei Bildern seine Möglichkeiten darstellen mußte.

Es passt zu dem Bild von Bode, dass er den langwierigen und mühsamen Überredungsprozess im Nachhinein zu einem großen Gespräch zwischen Künstler und Ausstellungsmacher stilisiert. In diesem Fall ist es aber richtig, dass er sich als Mitschöpfer des Nay-Raumes begreift. Denn er hatte nicht nur die Bilder in ungewohnter Weise installiert, sondern hatte ihnen auch zu einer neuen, bisher nicht gekannten Wirkung verholfen. Kurz vor seinem Tod beschrieb Arnold Bode seine Rolle bei der Entstehung des Nay-Raumes noch unverhohlener. So sagte er in einem Interview mit Georg Jappe (Kunstforum 21, 1977) auf die Frage, welche documenta ihm die liebste war: […] das war die die, wo ich das erste Mal die Räume angemalt habe, mit Nay. Das war die dritte […]. Nun erschien der Ausstellungsleiter, der einen Raum gestaltete, um für ihn die Gemälde eines Künstlerfreundes zu gewinnen, selbst als Künstler.

Bewunderung und Ablehnung

Mit einigem Stolz erinnert sich Elisabeth Nay-Scheibler an die Wirkung des Raumes: Der Eindruck war nachhaltig und die Hängung geradezu kühn. Nicht nur, dass sich fast jeder Besucher nun an die drei Bilder erinnerte und Nay dadurch berühmter wurde:[…] Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich so sehr auf die drei Deckengemälde, dass fast unterging, dass Nay mit sechs weiteren Gemälden aus der Serie der Augenbilder in der Abteilung Kabinette vertreten war.

Horst Richter gehörte zu den Fachkritikern, die von dem Raum und den drei Bildern uneingeschränkt angetan waren. Er schrieb im Neuen Rheinland (40/1964): Kassel bewies, daß Nay mit der ihm eigenen Gelenkigkeit die Kehre fast zur konstruktiven Strenge nahm, ohne seine unverwechselbare Handschrift preiszugeben. Nach wie vor ist er der Fürst unter den deutschen Koloristen. Die documenta 3 hat ihm […] ein interessantes Experiment ermöglicht, indem er drei Bilder so als Deckenszene gestalten konnte, daß sie im Drunterdurchgehen ‚lesbar‘ sind, optisch faßbar im Nacheinander und doch zu fixieren als malerische Einheit von einem bestimmten Eingangspunkt des breiten Ganges aus. Man sollte hier wohl an barocke Deckenmalereien denken. Nays ‚Drei Bilder im Raum‘ zielen ja keineswegs auf illusionistische Verzauberung, sondern auf die Veranschaulichung einer Bewegtheit.

Auch Carl Georg Heise folgte in seiner Kritik (Neue Zürcher Zeitung, 14. 7. 1964) den Intentionen Bodes und brachte das gewagte Projekt in nur einem Satz auf den Punkt: Da hängen sie nun, schräg gestellt von der hohen Decke herab, im Fortschreiten als zusammenhängende Abfolge aufzunehmen, die drei Riesenbilder von E. W. Nay, die noch vor wenigen Monaten nur in der Phantasie des Auftraggebers Arnold Bode existierten und jetzt auf verblüffende Möglichkeiten vorausweisen, sie als feste Bestandteile des Raumes zu erleben. Freskenersatz für eine lockerer improvisierende Zeit.

Während der Sam Francis-Raum, der als secheckiger Kuppelsaal gestaltet worden war, fast durchgängig positiv aufgenommen wurde, spaltete sich die Kritik bei der Beurteilung des Nay-Raumes. Die einen meinten, Bode habe Nay einen schlechten Dienst erwiesen und die Hängung überinszeniert, die anderen hielten die Arbeiten für zu schwach.

Selbst Lothar Orzechowski, der in Bodes Konzept eingeweiht war und zu einem treuen Parteigänger des documenta-Vaters wurde, meinte in seiner Kritik (Hessische Allgemeine, 24. 7. 1964) das Ziel sei verfehlt worden: Im Durchschreiten sollen für den Betrachter die drei großen Farbklänge, die hier angeschlagen werden, sich zu einem einzigen Akkord vereinen. Die Absicht ist deutlich, zu deutlich. So deutlich, daß sie, die Inszenierungsidee, zum Gegenstand der Betrachtung wird und nicht das Kunstwerk. Hier kehrt sich das, was Prof. Bode in seinem Katalogvorwort als einziges Ziel der Raumregie nennt, nämlich lediglich der größeren Entfaltung und Ausstrahlung des Bildes dienende Räume und Raumbezüge herzustellen, in sein Gegenteil um. Das Bild wird zum Mittel, mit dem eine, was ihren Anspruch angeht, ziemlich problematische Raumwirkung erzielt wird.

Ein Berichtertatter der Fuldaer Volkszeitung (4. 7. 1964) erkannte auf Anhieb die Schwachstelle der Inszenierung: Die großen Farbflächen hängen gestaffelt in verschiedenen Schräglagen an der Decke, stürzen dem – von der richtigen Seite – kommenden Beschauer gleichsam entgegen, wirken jedoch nur von einer Stelle aus. Sie sind nur Kulisse. Der den langen Raumschlauch von der Rückseite betrende Besucher schaut in die hässliche Unterwäsche der groben Aufhängevorrichtungen.

Die Kampagne

In ihren Erinnerungen bekennt Elisabeth Nay-Scheibler, dass sich auf Grund der ungewöhnlichen hängung fast jeder Besucher an die Nay-Bilder habe erinnern können und dass Nay dadurch berühmter geworden sei. Solche Effekte hatte Bode gewollt. Immer wieder versuchte er, durch inszenatorische Kunstgriffe den von ihm hoch geschätzten deutschen Künstler den gleichen Rang wie den Stars der internationalen Szene zuzuweisen. So hatte Bode in seiner ersten documenta im Malereisaal des Fridericianums die Gemälde dicht an dicht gehängt. Nur an den beiden kopfseiten des lang gestreckten Saals hatten zwei Bilder die Ehre, jeweils allein präsentiert zu werden. Das war zum einen Pablo Picassos Mädchen vor einem Spiegel (1932). Das Gegenstück war Fritz Winters erst 1955 gemaltes Großformat Komposition vor Blau und Gelb. Die Botschaft war klar: Durch die Gegenüberstellung wollte Bode beweisen, dass die deutsche Nachkriegskunst Picasso und der internationalen Moderne etwas Gleichrangiges entgegen zu setzen habe.

Vier Jahre später war es schon einmal Ernst Wilhelm Nay, dem Bode eine besondere Ehre erwies. In Kassel wurde wurde neben sechs anderen Gemälden das 1956 entstandene Freiburger Bild gezeigt, das mit seinen 251 x 634 Zentimetern das größte Nay-Werk war. Es wurde – ähnlich wie bei Winter 1955 – allein an einer Stirnseite des Malereisaales gezeigt – konfrontiert mit Being With von Roberto Echauren Matta.

1964 wurde Nay allein schon dadurch herausgehoben, dass er zusammen mit Sam Francis, Roberto Echauren Matta, Ben Nicholson und Germaine Richier in zwei Abteilungen der documenta III mit Werken vertreten war – in den Kabinetten im Museum Fridericianum und in der Sonderschau Bild und Skulptur im Raum. Und in dieser zweiten Abteilung nun konnte Nay mit seinen Deckenbildern triumphieren. Das konnte seine Kritiker und Gegner nicht ruhen lassen.

Schon zu Beginn der documenta III hatte der Maler und Kritiker Klaus Jürgen-Fischer zum Schlag gegen Nay ausgeholt (Die Zeit, 10. 7. 1964): Das zeigt sich klar an dem Sonderaufwand eines Kathedralraumes mit drei an der Decke gestaffelten Riesenbildern von Ernst Wilhelm Nay, den man offenbar eingerichtet hat, um diesem Kölner Maler eine Weltgeltung zu sichern, die er nicht besitzt. Die von Arnold Bode besorgte Hängung ist geistreich, daß sie dem Falschen zugute kommt, entspricht nicht nur einer freundschaftlichen Vorliebedes documenta-Rates für diesen Künstler, sondern einem nationalen Mißverständnis. […] Hier ist kein Weltrang, sondern ein künstlerisches Versagen zementiert worden.

Diese Kritik ging weit über eine normale Polemik hinaus. Hier wurde eine publizistische Hinrichtung versucht. Vielleicht wäre sie in den Pressearchiven untergegangen und vergessen worden, hätte nicht am 4. September 1964 Hans Platschek, ebenfalls Maler und Kritiker zugleich, in der Zeit (http://www.zeit.de/1964/36/Navs-Scheiben) nachgelegt. Sein Angriff auf Nay war so bösartig, dass die Redaktion im Vorspann zu der Polemik schrieb: Wir geben hier Platschek gern das Wort, selbst wenn man vielleicht den Eindruck gewinnen könnte, der Autor habe ein wenig über das Ziel hinausgeschossen: Übers Ziel hinauszuschießen, scheint uns weit besser zu sein, als gar kein Ziel zu haben (der traurige Normalfall der deutschen Kunstkritik).

Analysiert man mit dem Abstand von 35 Jahren den Platschek-Text, dann ist man erschüttert, wie wenig sich der Autor mit der eigentlichen Malerei (Kunst) Nays und den Kompositionsweisen auseinander gesetzt hat. Denn in erster Linie setzte sich Platschek mit Nays Interpreten auseinander – mit der Sprache, die dem Maler huldigte. Diese verklärenden, mystifizierenden Umschreibungen von Nays Malerei – auch aus der Feder des einflussreichen documenta-Mitgestalters Werner Haftmann – sind in der Tat zum Teil unausstehlich. Auch hat der Maler selbst, der seinen Schaffensprozess immer wieder mit kunstphilosophischen Äußerungen begleitete, viel zur Verunklärung beigetragen.

Allerdings kann man dort Platschek überhaupt nicht folgen, wo er mit Hilfe von Haftmann-Zitaten und dem Hinweis auf Nays Soldatenzeit (1940-1945) eine Nähe zum Geist des Dritten Reiches herstellt. Natürlich darf man nicht vergessen, dass im ersten Nachkriegsjahrzehnt die deutsche Sprache (auch in der Kuntkritik) noch nicht die Entnazifizierung hinter sich gebracht hatte. Doch ebenso wenig darf man vergessen, dass auch Nays Bilder als entartet diffamiert und beschlagnahmt worden waren.

Unaustehlich wird Platscheks Text genau dort, wo er sich dem konkreten Werk, dem Freiburger Bild zunimmt. In der Art und Weise, wie er das Bild zerpflückt, kann man jedes Gemälde diffamieren. Gerade er als Maler hätte sich auf diese primitive Ebene nicht begeben dürfen. Nur ein Beispiel: Zählt man die Scheiben, so kommt man auf 111 Stück, wobei man einräumen muß, daß diese Stückzahl anfechtbar ist. Denn nur 41 Stück sind unversehrt, die restlichen 70 sind nur als Halb-, Viertel- und Kümmerscheiben erkennbar. Nicht mitgerechnet sind die 49 Punkte, welche, vielleicht der Abwechslung halber, über die Leinwand vertreut sind […]

Der Platschek-Text hatte weitreichende Folgen. Über Wochen wurde in den Feuilletons über Nay und seine tatsächliche oder angebliche Weltgeltung, über Kunstkritik und den Kunstbetrieb diskutiert. Die Leute sind nay-rotisch, habe ihr Mann gesagt, schrieb Elisabeth Nay-Scheibler in ihren Erinnerungen. Alfred Hentzen, Direktor der Hamburger Kunsthalle, legte dar, dass es für einen Künstler gar nicht so etwas wie eine absolute Weltgeltung geben könne. Auch andere Kunsthistoriker wie Haftmann legten sich für Nay ins Zeug.

Doch der Maler und Kunstwerk-Herausgeber Klaus Jürgen-Fischer gab nicht nach. Im Gegenteil: Am 5. November 1964 erschien von ihm eine Abrechnung mit Nay im Berliner Tagesspiegel, die stärker als Platscheks Polemik am Werk Nays orientiert war und deshalb noch nachhaltiger wirkte. In diesem Artikel wurde auch deutlich, woraus sich die Wut des Verfassers speiste: Der Maler Ernst Wilhelm Nay ist deshalb zu einem ‚Fall‘ georden, weil seine unaufhörliche Exponierung das deutlichste Symptomfür die chronische schwächeeines immer fester umreißbaren Lagers unserer kunstkritischen und kunstfördernden Intelligenz darstellt, für die die ästhetische Kategorie der bildnerischen Ordnung, Klarheit und Disziplin, nicht existiert.

Und weiter heißt es: Dennoch gilt die Regel: Je verworrener mythisch-expressivein Bild im farbigen , formalen und technischen Aufbau, desto mehr Chancen hat es, von deutschen Kunstaugurenals potent und bedeutend betrachtet zu werden. Klaus-Jürgen Fischer wirft Nay schließlich vor, gerade in seinen documenta-Werken (Augenbildern) reine Abstraktion und gegenständliche Formen (Glotzaugen) zu vermischen – ein Vorwurf, über den man heute nur lächeln kann. Außerdem meint er, die sowieso schwache Malerei Nays sei technisch banal ausgeführt worden.

Klaus Jürgen-Fischer hat mit Hilfe seiner Zeitschrift dazu beigetragen, dass diese Kampagne längere Zeit im Bewusstsein blieb. Ob sie Nay und seinem Werk geschadet hat? Schwer zu sagen. Immerhin war zu spüren, dass auch Jahre später Freunde der Malerei Nays Werken mit gewissen Vorbehalten begegneten. Andererseits: Überraschend schnell hat Nay die erst 1963 begonnene Serie der Augenbilder aufgegeben und sich seinen strengen Form- und Farbstudien zugewandt.

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