Kunst für den Augenblick

1968 – Christo: 5600-Kubikmeter-Paket

Die künstlerische Aktion wurde zum Krimi: Schafft er es oder schafft er es nicht, hieß die Frage. Verrückt genug schien die Idee zu sein: Der aus Bulgarien stammende und in den USA lebende Künstler Christo (Jahrgang 1935) wollte zur documenta 4 eine Skulptur aus verpackter Luft errichten. Da das die wenigsten Normalbürger als Kunst verstanden, verfolgten sie einerseits fasziniert und andererseits nicht ohne Schadenfreude, dass der Künstler mit den Widrigkeiten kämpfen musste und seine Ballonskulptur nicht zum Stehen brachte. Den offiziellen Titel (5600-Kubikmeter-Paket) kannten die wenigsten. Lieber sprach man vom „Auespargel“, von der „Wurst“, „Bockwurst“, „Zigarre“ oder vom „Phallus“.

Christo und seine auf den Tag gleich alte Frau Jeanne-Claude arbeiten seit ihrem Kennenlernen gemeinsam an den Projekten. Christo schuf reihenweise Vorstudien zu seinen Vorhaben und visualisierte in Collagen, wie die Aktion geplant werden sollte, und Jeanne-Claude half mit bei der Realisierung und Organisation. Als das damals 33 Jahre alte Künstlerpaar in Kassel antrat, war es weit gehend unbekannt. Ein Hotel, in das sie sich vor der documenta einquartiert hatten, mussten sie räumen, weil sich Gäste über Christos lange Haare beschwert hatten.

Auch die Aktion selbst stand anfangs unter einem ungünstigen Stern. Christo hatte in Anlehnung an ein 1966 für Minneapolis realisiertes rundes Luftpaket an eine transparente Hülle gedacht, in der kleine bunte Ballons tanzen sollten. Aber nach den beiden ersten misslungenen Versuchen am 24. und 26. Juni 1968, bei denen die Lufthülle aus Polyäthylen aufgeplatzt war, wählte der Künstler auf einen festen Trevirastoff. Immerhin hatte das zweimalige Scheitern dem Künstler und der documenta weltweit Schlagzeilen eingetragen, von denen auf lange Sicht beide profitierten. Als dann am 14. Juli der dritte (wiederum vergebliche) Versuch startete, war das Interesse der Kunstöffentlichkeit gesichert.

Endlich, im vierten Anlauf war Christo erfolgreich. Der 85 Meter hohe Ballon konnte aufgerichtet und durch Seile, die im Umkreis von 274 Metern verankert wurden, so gesichert werden, dass er dann wirklich zum Wahrzeichen der documenta wurde. Der Ballon bestand aus 2000 Quadratmetern Stoff, die von 3,5 Kilometer langen Seilen verschnürt waren. Von weitem schon signalisierte er den Wandel der Kunst, ihre Expansion und den Unterhaltungswert von Kunst. Die Aktion war zum Bestandteil der künstlerischen Arbeit geworden. Ihr Ergebnis war für den Augenblick, für einen klar umgrenzten Zeitraum geschaffen, und nicht mehr für die Ewigkeit.

Allerdings hatte Christo nicht beabsichtigt, mit der Fertigstellung seiner Arbeit, die Stadt und die Besucher in den Bann zu ziehen. Die Länge der Aktion war unfreiwillig. Gleichwohl wurde Christo zum Wegbereiter der Aktionskunst. Von nun an war es für viele Besucher und Zaungäste selbstverständlich, dass die Ausstellung nicht unbedingt zum Zeitpunkt der Eröffnung fertig war und bis zum Ende unverändert blieb.

Wie bei allen anderen vergänglichen Projekten für die Öffentlichkeit hatte Christo zahlreiche Studien angefertigt, deren Verkauf zur Finanzierung beitrugen. Zuerst hatte Christo daran gedacht, sein Luftpaket auf dem Friedrichsplatz zu errichten. Doch die allzu große Nähe der Gebäude, die auch die Sicht versperrten, brachte ihn dazu, das Werk in der Karlsaue zu realisieren. Die Mitte der Karlswiese wurde zum idealen Standort. Unwillkürlich stellte das Luftpaket die anderen Skulpturen in den Schatten, die vor der Orangerie-Ruine platziert worden waren.

In der documenta-Arbeit war das Grundprinzip erkennbar, das Christo bei allen Verhüllungsprojekten leitete. Er wollte umformen, transponieren, so wie er 27 Jahre später den Berliner Reichstag in seinen Umrissen neu erleben ließ. Aber nicht nur die Hülle, das Einschließen und Verbergen sind ihm wichtig, sondern auch die eigenwillige Struktur, die sich durch die enge Verschnürung ergibt. Das wurde bereits 1968 in Kassel sichtbar. Im Jahre 2000 würde das Künstlerpaar mit dem Kasseler Bürgerpreis „Glas der Vernunft“ ausgezeichnet.

Aus. Meilensteine – documenta 1-12

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