Die grausame Wirklichkeit

1972 Edward Kienholz: Five Car Stud

Der Auftritt der Fotorealisten war das Ereignis der documenta 5. Die meisten fotorealistischen Maler waren Amerikaner. Sie brachten nicht allein die gegenständlichen Bilder in die Kunst zurück, sondern auch die Schönheit – zumindest den Glanz der Oberfläche. Umso mehr wurde die Teilnahme der kritischen Realisten vermisst, die damals ein Zentrum unter anderem in Berlin hatten.

Immerhin gab es zwei mit realistischen Mitteln arbeitende Künstler, die einen sozialkritischen Ansatz hatten. Der eine war der Bildhauer Duane Hanson, von dem man unter anderem drei im Müll liegende Obdachlose sah. In diesen hyperrealistischen Figuren kam die ganze Isolation und Verlorenheit der Menschen zum Ausdruck. Der andere Künstler war Edward Kienholz (1927-1994), der bereits 1968 Aufsehen erregt hatte. In der documenta 4 hatte Kienholz sein Environment „Roxy’s“ gezeigt, die Nachbildung eines Bordells aus den 40er Jahren. Der begehbare Raum war aus realen Fundstücken, alten Möbeln und nachgebauten Puppen zusammengestellt. Die Figuren, die unverkennbar ihre Sexualität und Käuflichkeit darstellten, waren allerdings surreal verfremdet und abstoßend missgestaltet. Der in der Raumausstattung so sorgfältig hergestellte realistische Effekt der kleinbürgerlich-miefigen Möblierung, kippte durch die Figuren ins Groteske um.

Kienholz kam also trotz mancher Nähe zu den Realisten aus einer völlig anderen Ecke. Er zwang die Besucher zur Auseinandersetzung mit der Drastik der Wirklichkeit. Die Räume und Situationen, die er schuf hatten etwas Unentrinnbares. Indem die Besucher sich neben die Figuren stellen oder im Raum Platz nehmen konnten, wurden sie Teil der Inszenierung. Sie konnten sich nur noch schwerlich auf die Position der Zuschauer zurückziehen. Der Schock wirkte daher heftig.

Noch stärker galt das für die Arbeit, die Kienholz 1972 in einem Rundzelt neben der Neuen Galerie präsentieren konnte. Die Besucher betraten eine dunkle Szenerie. Sie versetzte die Betrachter in die amerikanischen Weiten, wo sie zu Zeuge eines Gewaltaktes auf einer nächtlichen Kreuzung wurden: Fünf Weiße haben mit ihren Autos einen Wagen verfolgt, in dem ein Schwarzer mit einer weißen Frau saß. Nun haben sie den Wagen des Schwarzen zum stehen gebracht und ihn mit ihren Autos umstellt. Der Schwarze wird auf dem Boden festgehalten und wird allem Anschein nach kastriert. Die junge Frau im Auto muss sich übergeben. Die amerikanischen Autos sind real. Allein die Scheinwerfer der Wagen beleuchten die Szenerie. Auch die weißen Männer, die Rache nehmen wollen an dem vermeintlichen Rasseschänder, sind realistisch ausgestaltet; ihre Köpfe allerdings verwandeln sich in Zerrbilder, in Masken. Nur der Körper des Opfers ist nicht organisch. Man sieht eine Wanne, in der die Buchstaben schwimmen, die das Wort Nigger ergeben.

Es war eine unheimliche Szene, in der die im Halbdunkel herumgehenden Besucher kaum von den Tätern zu unterscheiden waren. Kienholz hatte damit seinen Finger auf die damals noch völlig offene Wunde der amerikanischen Gesellschaft gelegt, die sich zwar gesetzlich von der Rassentrennung verabschiedete, in der die Vorurteile und der Hass aber noch nicht getilgt waren. Bis zur documenta 5 hatte sich noch kein amerikanisches Ausstellungshaus gefunden, das bereit gewesen wäre, die Kienholz-Arbeit zu zeigen. Die Wirkung dieses Tableaus, wie der Künstler sein Environment nannte, war auch deshalb so stark, weil man sonst aus den USA eher glatte und gefällige Werke sah.
Der Beitrag löste Betroffenheit aus. Seiner Wirkung konnte man sich nicht entziehen. Dabei ging der Blick nicht nur kritisch-überlegen nach Amerika. Kienholz erinnerte gleichzeitig (vielleicht unbeabsichtigt) die Deutschen daran, dass bei ihnen die Rassentrennung und der Vorwurf der Rassenschande noch gar nicht so lange überwunden waren.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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