1972 Bernd & Hilla Becher: Typologie technischer Bauten
Kann Fotografie Kunst sein? Die Frage stellt sich heute nicht mehr. Größere Museen haben ihre Fotoabteilungen, und inmitten der Gemälde, Skulpturen und Installationen haben Fotografien ihren festen Platz erobert. In den 70er-Jahren jedoch wurde der Streit um den Kunstcharakter von Fotografie noch heftig geführt. Den großen Durchbruch erzielte für Deutschland erst die documenta 6, die 1977 einen umfassenden Überblick über die künstlerischen Aspekte der Fotografie seit ihrer Entstehung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab.
Ein Vorspiel zu dieser Fotoschau hatte die documenta 5 geboten. Harald Szeemanns Ausstellung, die als eine Schule des Sehens sämtliche Bildwelten präsentieren wollte, enthielt auch fotografische Arbeiten. Innerhalb der Abteilung Idee und Licht, die Klaus Honnef mitbetreute, der dann fünf Jahre später mit Evelyn Weiss für Malerei und Fotografie verantwortlich war, wurden auch Fotoarbeiten von Bernd Becher (Jahrgang 1931) und seiner Frau Hilla (Jahrgang 1934) gezeigt. Er war ursprünglich Grafiker gewesen, sie hatte sehr früh zur Fotografie gefunden. 1959 entschlossen sich beide, systematisch Industriebauten fotografisch zu dokumentieren. Sie ahnten nicht, dass sie diese selbst gestellte Aufgabe ihr Leben lang beschäftigen sollte.
Bernd & Hilla Becher begannen ein Werk, für das erst einmal kein künstlerischer Anspruch formuliert war. Weil es ihnen darum ging, die Formensprache einer vom Abriss bedrohten Industriekultur zu überliefern, verzichteten sie auf jegliche subjektive Einlassung. Sie wollten die schlichten Fachwerkhäuser, die Fördertürme, Gasometer und Wassertürme in ihrer Unmittelbarkeit unverstellt festhalten. Und indem sie sich selbst vornahmen, die unterschiedlichen Formen gleichwertig nebeneinander zu stellen, schufen sie Typologien, von denen heute Architekturhistoriker profitieren können.
Zu ihrer Handschrift wurde, dass sie auf äußerste Objektivität bedacht waren. Sie suchten für die Aufnahme ihrer Motive Positionen, aus denen sie in gerader Aufsicht die Bauten aufnehmen konnten. Dabei wählten sie solche Stunden, in denen das Licht diffus war, in denen keine starken Schatten die Gebäudestrukturen veränderten und in denen keine Wolken die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Auch erschienen die Gebäude oft so, als seien sie aus ihrem Umfeld herausgelöst worden. Oft fanden die Bechers einen erhöhten Aufnahmepunkt, von dem aus das Objekt in Augenhöhe also nicht von unten fotografiert werden konnte.
Die entstandenen Bildreihen sind von großer Strenge und Klarheit. Sie präsentieren die Fördertürme, Hochöfen und Kühltürme als idealtypische Formen, so, wie die Architekten sie gedacht haben. Die Fotos verwandeln die Industriebauten in Skulpturen, als die sie ihre Funktionalität verlieren. Darüber hinaus trugen die Fotoserien dazu bei, dass allgemein der Sinn für die Ästhetik der Industriebauten geschärft wurde. Man muss bedenken, dass sich unser heutiges Denkmalschutz-Bewusstsein erst in den 60er- und 70-er-Jahren ausprägte und damals noch nicht unbedingt die Industriekultur einschloss.
Bernd & Hilla Becher betrachteten ihre Motive aber nicht nur von außen. Mit großer Intensität studierten sie die Formen und Typen und beschäftigten sich mit den technischen Abläufen, die die Grundbedingungen für die Baugestalt lieferten. So stellten sie schon 1972 im documenta-Katalog zu den Fotos von Gasbehältern einen Text, der die Konstruktionsweise erläuterte.
Zum zweiten Mal waren ihre Arbeiten in der repräsentativen Schau zur Geschichte der Fotografie in der documenta 6 zu sehen. Auch fünf Jahre später zeigte Rudi Fuchs ihre Fotos von Industrieanlagen. Aus dieser Ausstellung wurden Aufnahmen von Fördertürmen für die Neue Galerie angekauft. Ihren großen Auftritt innerhalb der documenta hatten die Bechers dann 2002, als Okwui Enwezor die künstlerischen Aspekte der dokumentarischen Fotografie zu einem Schwerpunkt seiner Ausstellung machte.
Aus:Meilensteine – documenta 1-12