1972 Chuck Close: John
Mit aller Macht hatte die documenta der zeitgenössischen Kunst den Realismus ausgetrieben. Die ersten drei Kasseler Ausstellungen hatten der Durchsetzung der Abstraktion gedient. Abstrakte Kunst, so meinte man, würde die Weltsprache werden. Arnold Bode, der als Maler den Bezug zum Gegenständlichen nie ganz aufgegeben hatte, war den Weg zusammen mit Werner Haftmann zielstrebig gegangen. Aber Bode war weder Theoretiker noch Ideologe: Er wollte seine Ausstellung nicht in den Dienst von Lehrmeinungen stellen, sondern wollte dokumentieren, zeigen, wie die Kunst sich äußert. Unter Bodes Leitung war es 1968 vor allem Jan Leering, der der aktuellen Kunst die Türen öffnete.
Also wurde die documenta 4 (1968) zur großen Bühne für die Pop-Art, die ihre Motive aus der Alltagswelt des Konsums und der Werbung holte und damit in ganz neuer und direkter Weise realistisch wurde: Banales und scheinbar Flaches wurde wie bei Claes Oldenburg oder James Rosenquist ins Riesige aufgeblasen wobei natürlich die ironische Brechung nicht übersehen werden durfte. Damit war die Vorstellung, dass seriöse Kunst künftig nur noch abstrakt sein könne, ein für allemal erledigt.
Werner Haftmann als der Chefideologe der ersten drei Ausstellungen hatte die documenta-Gremien verlassen, um in Berlin die Leitung der Nationalgalerie zu übernehmen. Aber Werner Schmalenbach kehrte im Zorn der documenta den Rücken. Er meinte, Bode habe beim Buhlen um das Aktuelle einen Dammbruch zugelassen. Nun gebe es kein Halten mehr. Seine Vision war nicht unbegründet, denn mehr und mehr drängte auch das Ungesicherte in die documenta. Und nach der Pop-Art kamen vier Jahre später die Fotorealisten in großer Zahl nach Kassel.
Die Neue Galerie, die 1972 noch auf ihre Eröffnung als Museum wartete, irritierte und faszinierte die Besucher durch Dutzende von Gemälden, die so perfekt die Wirklichkeit spiegelten, dass man glaubte, Farbfotografien vor sich zu haben. Grabsteine, Kotflügel von Autos, Wohnwagen und Porträts eröffneten einen neuen Zugang zur Realität. Die amerikanischen Künstler brachten ein neues Weltverständnis nach Europa.
Die aufregendsten Bilder hatte Chuck Close (Jahrgang 1940) beigesteuert: zwei riesige Porträts, vor denen die Besucher wie Zwerge erschienen. Die Malerei war perfekt bis ins kleinste Detail. Selbst die Bartstoppeln waren im Gesicht zu sehen. Aber Close machte kein Geheimnis daraus, dass er sein Bild mit Hilfe eines konstruierten Gitters nach einer projizierten Fotografie gemalt hatte, denn selbst die Unschärfen, die bei einer Vergrößerung sichtbar werden, hatte er in sein Gemälde mit übernommen.
Die Fotorealisten waren in gewisser Weise die zweite Generation der Pop-Art-Künstler: Sie übernahmen die Alltagsmotive, die alle Welt mit der Kamera einfing und thematisierten diese Form der Reproduktion, indem sie selbst die Schwächen der Fotografie (Unschärfen) malerisch umsetzten. Damit hatten sie einen Kreis geschlossen, denn rund 100 Jahre zuvor hatten sich die Fotografen bemüht, ihre Studioaufnahmen wie Gemälde auszugestalten. Zugleich war der Auftritt der Fotorealisten für die Kunst in Deutschland ein Vorspiel: Fünf Jahre später sollte die bis dahin als technisches Hilfsmedium angesehene Fotografie sich als Kunstform in der documenta fest etablieren.
Die gegenständliche, die realistische Kunst hatte wieder ihren Platz gefunden zwar in anderer Weise als die Spielarten des Realismus, wie sie überall noch gepflegt wurden, doch sehr nachdrücklich. Der Fotorealismus fand immer wieder Parteigänger, doch als Mode verschwand er von der Kunstbühne so schnell, wie er aufgetaucht war. Chuck Close und der Schweizer Franz Gertsch sollten bis in die Gegenwart zu den wichtigsten Vertretern der fotorealistischen Schule bleiben. 1977 präsentierte Manfred Schneckenburger noch einmal Close als Fotorealisten in der documenta 6. Aber diese Wiederholung war nicht ganz plausibel.
Close selbst versteht sich nicht als einen Vorkämpfer für die realistische Kunst. Je länger er sich in Malerei und Grafik mit dem menschlichen Porträt auseinander setzte, desto stärker gewann das Gitternetz, das er zur proportionalen Umsetzung seines Motivs benutzte, an Eigengewicht. Bald schon begann er, die Gitterstrukturen sichtbar zu machen. Und schließlich entwickelte er manieristisch wirkende Kompositionen, in denen Close die Gitterfelder mit kleinen abstrakten und geometrischen Zeichen füllte, die Farben sowie Licht und Schatten aber so setzte, dass in der Fernwirkung ein realistisches Porträt erkennbar wurde.
Aus: Meilensteine – documenta 1-12