Poetische Kunst: Ein gefangener Riese der Lüfte

1972 – Panamarenkos „Aeromodeller“

Beim Betreten des Saales verschlug es einem den Atem. In dem lang gestreckten Raum war ein einziges Objekt zu sehen, aber es füllte ihn total aus. Ja, man hatte den Eindruck, der Saal sei viel zu klein und zu niedrig für das Luftschiff, das da unter der Decke hing. Es erschien wie ein gefangener Riese, der, würde man ihn nur frei lassen, einen in die Weiten der Lüfte entführen würde.

Inmitten der beunruhigend neuen Kunst, deren Sprache die meisten erst erlernen mussten, war dieser Raum ein Ort der Ruhe. Hier konnte man eben so zu sich finden wie beim Umrunden des Steinkreises, den Richard Long ein paar Räume weiter im Museum Fridericianum ausgelegt hatte.

Ach ja, der Traum vom Fliegen. Der von dem Belgier Panamarenko (Jahrgang 1940) gebaute „Aeromodeller“ forderte geradezu zum Träumen heraus. In Gedanken löste man sich und flog davon. Alles weitere hatte nichts mehr mit dem realen Luftschiff zu tun, sondern mit der eigenen Kraft poetischer Vorstellungen.

Aber was hatte ein Luftschiff in einer Kunstausstellung wie der documenta zu suchen? Konnte man nicht gelegentlich am Himmel einen richtigen Zeppelin bewundern, der als eine große Form durch die Lüfte segelte? Was also war daran Kunst? Liest man die Baubeschreibung von Panamarenko, dann hatte der aus Antwerpen stammende Künstler bei der Konstruktion durchaus an ein wirkliches Flugobjekt gedacht. Sein Text las sich so, als sei es dem Belgier darum gegangen, in den Wettbewerb mit den Flugzeugbauern zu treten.

Fünf Jahre später war Panamarenko wiederum nach Kassel zur documenta eingeladen worden. Da stellte er ein Gummiauto mit Düsenantrieb vor – ein Widerspruch in sich, wie es schien. Dennoch wirkte Panamarenkos stromlinienförmiges Auto, das an ein Rennfahrzeug erinnerte, machbar und insofern als eine der Wirklichkeit angenäherte Vision. 1977 jedoch wurde Panamarenkos Arbeit als Beitrag zum Utopischen Design vorgestellt, nicht als Kunstwerk.

Der „Aeromodeller“ hingegen war 1972 innerhalb der Abteilung „Individuelle Mythologien“ als ein Kunstwerk gezeigt worden. Aber was war es – ein in den Raum projiziertes Bild, eine Skulptur oder ein Vorschlag zum Design? Nimmt man es genau, dann war das Luftschiff alles zugleich und doch immer auch etwas anderes. Panamarenko, der eine Vorliebe für die Erfindung von realistisch wirkenden und doch gebrauchsunfähigen Flugobjekten hatte, repräsentierte eine neue Künstlergeneration, die sich von den traditionellen Bezügen und Stilkategorien befreit hatte. Diese Künstler nutzten ihren selbstgeschaffenen Freiheitsraum, um an der Grenze zum Wirklichen und Funktionalen mit Hilfe von erfundenen und gebauten Objekten die Realität zu simulieren. Sie sahen sich nicht länger an die Leinwand oder an die auf den Sockel gestellte Plastik gebunden, sondern setzten die ihnen vorschwebenden Bilder zu greifbaren Objekten um.

Das Luftschiff hatte eigentlich alles, was es zum Fliegen und zur Personenbeförderung braucht: Der auf dem Boden ruhende Förderkorb war begehbar, man sah die Antriebspropeller, und die Ausmaße der aufgeblasenen Hülle schienen zum Fliegen ausreichend. Trotzdem verkörperte der „Aeromodeller“ nur die Idee vom Schweben und Fliegen: Ein Traumbild hatte Gestalt angenommen. Aber es war zerbrechlich wie ein Traum und suchte nicht die technische Perfektion, sondern die Unvollkommenheit des Entwurfs. Und eben aus dem Zusammentreffen von Zerbrechlichkeit und Ideenskizze entstand der poetische Reiz des Objekts.

Wohl mit Bedacht war draußen an der Fassade des Fridericianums, hinter der das Luftschiff ruhte, die Arbeit von Haus-Rucker-Co angebracht worden – eine transparente und im Prinzip begehbare Kugel, die wie eine erträumte Oase erschien. Die Arbeit von Haus-Rucker-Co schlug eine Brücke zu der Abteilung Utopie und Planung. Entsprechend perfekt und ausgefeilt hing sie an der Fassade. Sie kam aber auch dem sehr nahe, was Panamarenko mit seinem „Aeromodeller“ im Sinn hatte: Mit künstlerisch-technischen Mitteln einen Raum zu schaffen, der einem Zitat der Wirklichkeit gleicht, aber zu einem Ausflug aus der Realität einlädt.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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